Kapitel 72 ~ Die Person namens Shen Jiu

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„Du hast keine Angst mehr vor mir?“, fragte Luo Binghe.

Ich habe keine Angst vor dem da draußen. Aber ich habe Angst vor dem hier drinnen!

Luo Binghe hob eine Hand und winkte ihm: „Komm her.“

Wenn der ursprüngliche Luo Binghe — und die verdunkelte Version noch dazu — einen zu sich rief, sollte man besser gehorsam sein, selbst wenn man vor Angst zitterte. Doch Shen Qingqiu hatte immer noch den Mut, angesichts des Todes einen letzten Kampf zu wagen. Doch in dem Moment, als er sich umdrehte, blitzte diese schwarze Silhouette vor ihm auf und versperrte ihm den Weg. Noch ein paar Zentimeter, und Shen Qingqiu würde gegen ihn prallen.

Shen Qingqiu wich abrupt einige Schritte zurück und verfehlte es nur knapp, rückwärts umzufallen. Luo Binghe packte ihn mit zwei Fingern am Ärmel und zog ihn zurück: „Warum bist du weggerannt?“, fragte er sanft.

Mit diesem Gesicht direkt vor sich konnte sich der jetzige Shen Qingqiu weder zu einem Schlag durchringen noch seinen Besitzer ernsthaft fürchten. Immer noch nicht bereit, aufzugeben, pingte er das System weiter an.

„Ist das wirklich der ursprüngliche Luo Binghe? Nicht der Luo Binghe meiner Welt? Was soll ich tun, um die Bestrafung aufzuheben? Es kann nicht ernsthaft gemeint sein, dass ich gegen ihn kämpfen und gewinnen soll! Was ist der Unterschied zwischen dem und dem Zurückschicken in meine ursprüngliche Welt?!“

[ Schöne Grüße. Während die Bestrafung im Gange ist—]

Shen Qingqiu lockte sich aus dem Fenster aus.

Luo Binghe starrte ihm eine Weile ins Gesicht, dann runzelte er die Stirn: „Irgendwie habe ich das Gefühl … dass etwas an dir anders ist. Bist du wirklich Shen Qingqiu?“

Shen Qingqiu blinzelte, blieb aber vorsichtig. Luo Binghe musterte sein Gesicht, ein Hauch von Verwirrung war in seinen Handlungen. Dann ergriff er langsam Shen Qingqius rechte Hand.


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Seine Handfläche fühlte sich wie immer an, sowohl trocken als auch kühl. Shen Qingqius Herz bewegte sich nur ein wenig und er wollte gerade etwas sagen, als plötzlich seine rechte Schulter kalt wurde.

Im Moment spürte Shen Qingqiu nicht, wie sich sein rechter Arm von seiner Schulter löste. Er sah nur, wie etwas in die Luft geschleudert wurde und sein halber Körper schien leichter zu sein. Selbst dann verstand er es nicht ganz — nicht, bis ein ohrenbetäubender Schmerz durch seinen ganzen Körper und sein Gehirn fuhr.

Luo Binghe hatte seinen rechten Arm direkt abgerissen!

Nachdem er eine traumatische Verletzung erlitten hatte, verließ Shen Qingqius Körper automatisch ein Ausbruch spiritueller Energie. Aber ein einziger Handschlag von Luo Binghe zerstreute sie, als sei sie nichts.

Purpurrotes Blut quoll aus seiner Wunde. Es war unmöglich, es aufzuhalten. Shen Qingqius Kopf drehte sich und sein Blick schwankte. Er könnte jemanden schreien gehört haben oder auch nicht. Seine Ohren klingelten, also konnte er es nicht sagen. Sein einziger Gedanke war, dass er jetzt sofort von der Person vor ihm weg musste.

Er taumelte rückwärts, stolperte aber nach nur ein paar Schritten über einen verkohlten Bambusstiel und fiel direkt auf den Rücken.

Der Schmerz von dem Stumpf, wo sein Arm gewesen war, war zu groß. Sogar das Gefühl, dass sein Kopf auf dem Boden aufschlug, war ihm entgangen. Luo Binghe kam gemächlich wieder auf ihn zu. Dieses Mal streichelte er Shen Qingqius Wade in einer sanften Liebkosung.

Menschlicher Stock!

Luo Binghe plante, ihn in einen menschlichen Stock zu verwandeln!

Shen Qingqiu litt unter so großen Qualen, dass er kaum atmen konnte. Er packte Luo Binghe mit seiner verbleibenden Hand und schüttelte verwirrt den Kopf. Keuchend und nach Luft ringend, sagte er: „Tu’s nicht… Tu’s nicht…“

Tu das nicht mit diesem Gesicht.

Luo Binghe drückte Shen Qingqiu mit einer einzigen Hand fest zu Boden. Seinen Blick hätte man fast als liebevoll bezeichnen können.

„Das ist nicht das erste Mal, dass wir das machen, also warum ist das für Shizun immer noch so ungewohnt?“, sagte er leise, „Wie wäre es dann, wenn wir es noch ein paar Mal machen und dich langsam daran gewöhnen?“

In diesem Moment ging ein entsetzlicher, herzzerreißender Schmerz von der Wurzel von Shen Qingqius linkem Oberschenkel aus und durchzuckte schnell seinen gesamten Körper.

Er konnte es nicht mehr ertragen. Er begann zu schreien.


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Plötzlich sprach die monotone Stimme des Systems eine Benachrichtigung.

[ Bestrafung abgeschlossen. ]

Der Schmerz verschwand und Shen Qingqiu sprang mit einem Satz auf, bevor er sofort wieder auf die Knie fiel. Er war nicht einmal in der Stimmung, irgendetwas zu verspotten oder dem System eine Ohrfeige zu verpassen. Stattdessen blieb er halb auf den Knien sitzen und beobachtete, wie sein kalter Schweiß Tropfen für Tropfen auf den Boden fiel, während sein Blick immer noch von Sternen durchzogen war.

Neben ihm erklang plötzlich eine Stimme: „Was ist los?“

Erst da erkannte Shen Qingqiu, dass er nicht allein war.

Es schien, als wäre er nicht in die reale Welt zurückgekehrt. Dies war noch ein weiteres Traumreich.

Außerdem kam ihm diese Höhle bekannt vor. Es war die Höhle, in der Meng Mo als schwarzer Nebel gelauert hatte, damals, als Shen Qingqiu seine erste Erfahrung gemacht hatte, in Träume einzutreten. Die Person neben ihm war tatsächlich Meng Mo.

Mit Mühe gelang es Shen Qingqiu, sich zu beruhigen, dann stellte er seine eigene Frage. „Wie bin ich hier bei Ihnen gelandet?!"

„Sie sind in ein unglaublich mächtiges Traumreich eingetreten und Ihr Geist drohte auseinandergerissen zu werden, also hatte ich eine Weile versucht, mich einzumischen. Dieser Älteste hat es viele Male versucht, ist aber gescheitert — ich habe es gerade erst geschafft und Sie dann ganz nebenbei mit zurückgenommen hinter diese Barriere hier.“

Basierend auf Shen Qingqius früheren Eindrücken schien Meng Mo ihn nicht besonders zu mögen. Dass er so weit gegangen war, eine schlimme Situation zu erkennen und ihn dabei sogar 'nebenbei' herauszuziehen, kam überraschend.

„Vielen Dank an diesen Ältesten“, sagte er von Herzen, „Sie haben mir wirklich sehr geholfen.“

Meng Mo schnaubte: „Sie brauchen mir nicht zu danken. Dieser Älteste war nur überrascht, als er das letzte Mal im Heiligen Mausoleum war. Sie haben es wirklich geschafft, durchzuhalten, bis dieser Bengel aufgewacht ist. Also indem Sie ihm geholfen haben, haben Sie damit auch mir geholfen.”

Die unglaubliche Qual, dass ihm der Arm abgerissen worden war, war noch immer in Shen Qingqius Bewusstsein eingebrannt und jedes Mal, wenn dieses Gesicht in seinem Kopf auftauchte, löste es die Erinnerung aus. Shen Qingqiu konnte nicht anders, als seine rechte Schulter mit der linken Hand zu halten. Erst nach mehreren Atemzügen gelang es ihm, den Namen ohne Zittern auszusprechen: „Wie kommt es, dass ich Luo Binghe nicht gesehen habe?“

Logischerweise war Luo Binghe derjenige, der ihn am liebsten in Träume zog, und derjenige, der am meisten davon begeistert war. Normalerweise, wenn Shen Qingqiu einschlief, kam Luo Binghe und belästigte ihn. Aber diesmal war Meng Mo tatsächlich zuerst da gewesen und hatte Shen Qingqiu in seine Barriere gezogen.

Der bloße Gedanke an Luo Binghe deprimierte Meng Mo: „Woher sollte dieser Älteste das wissen? Von dem Moment an, als dieser Bengel meine wundersamen Techniken beherrschte, war ich nie wieder in der Lage, sein Traumreich zu betreten. Von all denen unter dem Himmel, ist er der einzige, gegenüber dessen Gedanken und Träume dieser Älteste völlig hilflos gegenübersteht.“

Shen Qingqiu musste diesen süßen und gehorsamen Luo Binghe sofort sehen, dessen Glieder jedes Mal schmerzen würden, wenn ihm dieser Name in den Sinn kam. Kann diese reinherzige weiße Blume von einem Jungen bitte sofort auftauchen und mich beruhigen?!

Meng Mo warf Shen Qingqiu einen Blick aus den Augenwinkeln zu. Als er sah, dass sein Gesicht grün und seine Lippen blass waren, fragte er steif: „Dieser Bengel wird kommen und Sie selbst finden, also warum haben Sie es so eilig? Haben Sie ihn nicht früher gemieden wie die Pest?“

Shen Qingqiu blickte Meng Mo an und täuschte Verachtung vor und dachte: Zählt das als Versuch, mich zu trösten?

Bis er sich ein wenig entspannt hatte, während er auf dem Boden saß, verging einige Zeit, bevor Shen Qingqiu sich plötzlich an etwas erinnerte: „Ältester Meng Mo, damals im Heiligen Mausoleum, nahm ich Luo Binghe mit nach Osten. Auf dem Weg begegneten wir zwei Menschen und darunter war eine Frau. Haben Sie …“

Damals war Qiu Haitang für einen Moment bewusstlos gewesen. Als sie dann aufgewacht war, war sie ohne Grund verrückt geworden und dann entsetzt geflohen. Shen Qingqiu hatte den starken Verdacht, dass sie während ihrer Abwesenheit etwas in ihrem Traumreich gesehen hatte. Da Luo Binghe zu diesem Zeitpunkt ebenfalls bewusstlos gewesen war und seine Stirn wie glühende Kohle brannte, konnte er nicht in Qiu Haitangs Träume eingedrungen sein. In diesem Fall war Meng Mo der wahrscheinlichste Eindringling.

Wie erwartet zwirbelte Meng Mo seine Barthaare: „Dieser Älteste hat tatsächlich einen kleinen Trick angewendet.“

Obwohl er sich gleichgültig verhielt und es einen 'kleinen Trick' nannte, war seine Stimme unüberhörbar voller Stolz.

Shen Qingqiu konnte nicht anders als zu fragen: „Was genau haben Sie ihr gezeigt?“

Wenn Meng Mo eine Person psychisch vernichten wollte, zeigte er ihr normalerweise ihre dunkelsten, schmerzhaftesten Erinnerungen. Könnte er ihre Erinnerungen an das Massaker von Qiu herausgezerrt haben?

Nein, das konnte nicht sein. Wenn dies der Fall gewesen wäre, wäre Qiu Haitangs Reaktion beim Aufwachen und beim Anblick von Shen Qingqiu nicht so gewesen, wie sie es waren. Sie wäre vor Hass übergelaufen und hätte ihn erstochen, seinen Körper mit hundert Löchern durchbohrt. Also warum hatte sie stattdessen geweint und geschrien, bevor sie sich umgedreht und geflohen war?

„Die Erinnerungen, die ich ihr gezeigt habe“, sagte Meng Mo, „waren nicht ihre, sondern Eure.“

Shen Qingqiu verstand sofort. Die Erinnerungen von Shen Jiu, die immer noch in seinem Körper waren!

Sie waren ihm in den Sinn gekommen, seit Flugzeug schießt dem Himmel entgegen erwähnt hatte, dass Shen Qingqius ursprüngliche Hintergrundgeschichte nie in den eigentlichen Roman übertragen worden war. Sofort fragte er: „Darf ich darum bitten, dass dieser Ältester sie mir zeigt?“

Meng Mo warf ihm einen Blick zu, aber er fragte nicht, warum Shen Qingqiu jemanden brauchte, der ihm seine eigenen Erinnerungen zeigte: „Sie erinnern sich nicht?“

Shen Qingqiu hatte sich darauf vorbereitet, irgendetwas Offensichtliches darüber zu verbreiten, wie eine Qi-Abweichung, die sein Gedächtnis geschädigt hatte, aber jetzt nickte er: „Richtig.“

Es muss zudem gesagt werden, dass Gedächtnisverlust durch eine Qi-Abweichung ziemlich unwahrscheinlich war.

Meng Mo verhörte ihn überraschenderweise nicht weiter: „Manche Dinge vergisst man besser.“

„Ich bitte diesen Ältesten ernsthaft um Hilfe.“

„Sie wollen es wirklich sehen?“

Shen Qingqiu nickte mehrmals.

Meng Mo streckte die Hand aus und drückte einen Finger auf seine Stirn: „Schließen Sie Ihre Augen. Warten Sie, bis ich Euch loslasse, bevor Ihr sie wieder öffnet.“

Shen Qingqiu schloss dementsprechend seine Augen.

„Ihre Erinnerungen sind fragmentiert und unvollständig und Sie werden vielleicht Menschen sehen, deren Gesichtszüge verschwommen sind oder undeutlich erscheinen. Solche Probleme entstehen durch Euch selbst.“

Meng Mo meinte damit wohl, dass wenn es Fehler gäbe, dann läge das Problem in Shen Qingqius persönlichen Dateien und nicht in seiner eigenen Technik.

Shen Qingqiu zählte schweigend bis zehn und wartete, bis der Druck auf seiner Stirn verschwunden war. Als er später die Augen öffnete, kniete ein gebrechlich aussehender Junge vor ihm auf dem Boden, sein Haar war offen und die Arme waren hinter ihm mit Hanfseilen gefesselt.

Das Gesicht des Jungen war hell mit einem spitzen Kinn, seine Augen und Brauen klar und zart. Doch in seinem Gesicht lag eine anhaltende Verdrossenheit, zwei Blutergüsse bedeckten seine Stirn und einen Mundwinkel. Das war der noch junge Shen Jiu.

Damals in der Stadt Hua Yue, als Shen Qingqiu Luo Binghes Traumreichbarriere entkommen war, war er versehentlich in eine von Shen Jius fragmentierte Erinnerungen geraten und dies war die Szene, die er miterlebt hatte. Nachdem er sich umgesehen hatte, stellte er fest, dass sein überstürzter Blick von damals nicht falsch gesehen hatte: Dies war ein weitläufiger Raum, in dem ein Arbeitszimmer und Privaträume miteinander verbunden waren. Ein Sandelholz-Mondtor stand in der Mitte des Raumes und trennte die beiden Bereiche. Der Raum selbst war großzügig eingerichtet worden, die vier Wände waren mit wunderschön gerahmten Kunstwerken und Kalligrafien behangen. Nur eine wohlhabende Familie konnte sich solche Dinge leisten. Es konnte auf keinen Fall das Versteck von einen Menschenhändler sein.

Shen Qingqiu verschränkte die Arme und lehnte sich schweigend gegen eine Vitrine in der Nähe.

Die kunstvoll geschnitzte Holztür vor ihm öffnete sich ohne ein Flüstern.

Shen Jiu war steif und bewegungslos, obwohl seine Augen nach oben blickten. Die sich nähernde Person überquerte die Schwelle, ihre Silhouette spiegelte sich in Shen Jius Augen wider.

Es war ein prächtig gekleideter Jugendlicher. Seine Gesichtszüge waren zu sechs Zehnteln identisch mit denen von Qiu Haitang. Shen Qingqiu wusste, dass dies das bedeutendste Opfer des Qiu Massakers sein musste: Qiu Haitangs älterer Bruder.

Seine frühere Vermutung war richtig gewesen. Egal, wie man es betrachtete, während Shen Jius Tagen auf dem Qiu Anwesen war er nicht vernarrt in ihn gewesen, so wie es Qiu Haitang behauptet hatte.

Der Junge strich gemächlich an Shen Jiu vorbei und ging dann einen Halbkreis um ihn herum. Shen Jius Gesicht war angespannt, seine Lippen geschürzt. Obwohl sein Ausdruck mürrisch war, zitterten seine Schultern leicht. Es war offensichtlich, dass er Angst hatte, sich aber zwang, ruhig zu wirken.

Plötzlich trat der junge Meister Qiu aus und pflanzte seinen Fuß direkt auf Shen Jius Rücken. Shen Jiu schlug sofort mit dem Gesicht voran auf den Boden auf.

Der junge Meister Qiu grinste höhnisch: „Was, diesmal zu ängstlich, um zurückzuschlagen?“

„Erbarmt Euch, junger Meister“, sagte Shen Jiu mit leiser Stimme, seine Nase war jetzt blutig und mit Asche verschmiert, „Ich wusste nicht, dass Ihr es wart.“

„Du wusstest es nicht? Du wusstest es nicht und hast trotzdem die Frechheit, mich zu provozieren!“

Der junge Meister Qiu warf Shen Jiu mit einem einzigen Schlag zu Boden und Shen Jius Stirn traf mit einem gedämpften Schlag auf den Boden auf. Zwei Blutstrahlen flossen von seiner Nase bis zu seinem Kinn. Der junge Meister Qiu schien große Freude an der Situation zu haben. Er hatte eindeutig unglaublich viel Spaß dabei, so als würde er einen Ball schlagen.

Shen Qingqiu beobachtete es sprachlos von der Seite.

Ein paar Dutzend Runden dieses Hin und Hers und Shen Jiu hielt es schließlich nicht mehr aus: „Was genau wollt Ihr?!“

Das Lächeln des jungen Meisters Qiu war schrecklich bösartig: „Du bist jetzt ein Mitglied meines Hauses, also kann ich eigentlich mit dir machen, was ich will.“

Plötzlich ertönte die schöne Stimme eines jungen Mädchens von draußen vor der Tür: „Gege? Gege? Bist du da drin?“

Als er die Rufe seiner kleinen Schwester hörte, veränderte sich der Gesichtsausdruck des jungen Meisters Qiu und er löste die Seile um Shen Jiu, während er ihm leise bedrohte: „Wisch dir das Gesicht sauber! Sag ein falsches Wort und du bist tot!“

Sowohl hasserfüllt als auch ängstlich blitzten Shen Jius Augen in einem wilden Licht auf. Obwohl er wütend war, wagte er nicht zu sprechen und rieb sich zweimal grob über das Gesicht, wischte Blut und Staub ab. Aber wer hätte ahnen können, dass je mehr er wischte, es desto schmutziger wurde? Als der junge Meister Qiu dies sah, nahm er eine Vase vom Fensterbrett und spritzte das Wasser darin auf Shen Jius Gesicht. Dann wechselte er die Miene komplett und öffnete die Tür, sein Lächeln strahlte vor Freude: „Warum ist Tang-er hierhergekommen?“

Shen Qingqiu verstand schließlich, wie sich die Persönlichkeit des originalen Shen Qingqiu entwickelt hatte, der einem ins Gesicht schmeichelte und dann in den Rücken stach. Höchstwahrscheinlich hatte er es sich vom jungen Meister Qiu durch Nachahmung abgeschaut ...

Qiu Haitang war in einem helllila Brokat gekleidet und an ihren Füßen trug sie kleine weiße Satinstiefel mit Perlen an den Zehen. Sie war wirklich wie eine zarte junge Dame, die in einer Blütenknospe aufgewachsen war, und sie besaß eine vollkommene Schönheit, wie die von ihrem zukünftigen, wettergegerbten Ich. Sie ging kichernd durch die Tür: „Ich habe gehört, dass Gege jemanden gekauft hat, also bin ich gekommen, um zu sehen, wer er ist.“

Als sie den Jugendlichen in der Ecke stehen sah, bemerkte sie, dass sein Gesicht trotz seines lustlos gesenkten Kopfes und seines Zusammenschrumpfens sehr hübsch war. Ihre Augen leuchteten auf und sie ging zu ihm hinüber und war erfüllt von einem Lächeln: „So, du bist also Xiao-Jiu?“

Shen Jius Gesicht war bereits sauber gewischt. Er blieb mürrisch und stur und weigerte sich, zu antworten.

Als er hinter seiner Schwester stand, blitzten die Augen des jungen Meisters Qius in einem bedrohlichen Licht auf. Er lächelte: „Er ist ziemlich temperamentvoll und er spricht nicht wirklich gerne.“

Qiu Haitang bewegte sich, um Shen Jius Hand zu halten: „Warum redest du nicht gern? Sag bitte etwas zu mir?“

Ihre Stimme war sanft und süß, ihr Ton liebevoll und obendrein gab sie das perfekte Bild der Unschuld ab. Sie anzugreifen wäre für jeden unerträglich gewesen.

Ning Yingying war Qiu Haitang in ihrer Jugend wirklich ziemlich ähnlich, dachte Shen Qingqiu. Der Geschmack vom originalen Shen Qingqiu war also schon immer von dieser Sorte geprägt worden.

Anfangs blieb Shen Jius Gesicht steif, aber er konnte dieser Art, dem sanften Einschmeicheln von dem jungen Mädchen nicht widerstehen. Mit geschlossenem Gesichtsausdruck wandte er den Kopf ab, seine Ohren liefen leicht rot an.

Bei diesem Anblick klatschte Qiu Haitang in die Hände: „Gege, er macht so viel Spaß! Kein Wunder, dass du ihn gekauft hast, obwohl du es immer gehasst hast, Außenstehende hereinzubringen. Ich mag ihn ziemlich.“

Der junge Meister Qiu lächelte, obwohl es seine Augen nicht erreichte: „Ich mag ihn auch sehr.“

Als Shen Jiu das Wort 'mag' hörte, konnte er nicht anders als zu zittern.

An diesem Punkt der Erinnerung verdunkelte sich die Szene plötzlich. Alle Anwesenden verschwanden ebenfalls spurlos. Shen Qingqiu erschrak, als ihm klar wurde, dass es das war, worüber Meng Mo gesprochen hatte: Die Erinnerungen wurden abgeschnitten. Da die Erinnerungen im Körper des originalen Shen Qingqiu waren, waren sie fragmentiert und unvollständig, Unterbrechungen wie diese waren üblich. Der vorherige Erinnerungsabschnitt war bereits beendet und jetzt würde ein neuer beginnen.

Der Schauplatz war derselbe Raum. Dieses Mal war Shen Jiu nicht gefesselt. Er lag ausgestreckt auf dem Boden, seine Nase war verletzt und sein Gesicht geschwollen, seine Finger krallten sich fest in den Teppich, bis seine Fingerspitzen mit Blut befleckt waren.

Plötzlich ertönten zwei leichte Klopfgeräusche an der Tür. Von draußen rief die gedämpfte Stimme eines Jugendlichen: „Xiao-Jiu, Xiao-Jiu?“

Als Shen Jiu diese Stimme hörte, bewegte er sich abrupt und warf sich gegen die Tür, sein Gesicht gegen das Holz gepresst: Qi-Ge!“

„Sei etwas leiser. Ich habe mich rein geschlichen.“

Zunächst hatte Shen Qingqiu keine Ahnung, wer die Person draußen war, aber dann änderte sich sein Denken: Shen Jius Name war 'Neun', weil er das neunte Kind gewesen war, das von den Menschenhändlern entführt worden war. Daraus folgte natürlich, dass es auch noch Kinder von 'Eins' bis 'Acht' gegeben haben musste.

Wenn man jedoch bedachte, dass Shen Jiu es mit seiner Persönlichkeit gelungen war, sich einen guten Freund zu angeln, dann war dies eine echte Überraschung für Shen Qingqiu.

Von der Tür kam ein Rasseln, als würde die Person draußen daran rütteln.

„Es hat keinen Zweck“, sagte Shen Jiu, „Es gibt fünf bis sechs Schlösser, sowohl innen als auch außen. Die Fenster sind auch verschlossen.“

„Die Flucht ist diesmal fehlgeschlagen“, sagte der Junge besorgt, „Sie haben dir nichts getan, oder?“

Shen Jius Wut stieg plötzlich an: „Haben mir nichts getan?“, schnappte er, „Bist du dumm? Sie haben mich vor zwei Tage hier eingesperrt und mir beide Beine gebrochen. Was denkst du?!“

Shen Qingqiu konnte deutlich sehen, dass, obwohl Shen Jiu einige Schläge einstecken musste und er dadurch zwar nicht laufen konnte, so waren doch seine Beine vollkommen in Ordnung und überhaupt nicht gebrochen.

Aber dieser Junge konnte nicht durch die Tür sehen und schien die Behauptung für richtig zu halten: „Es ist alles meine Schuld“, sagte er schuldbewusst.

„Natürlich war es deine Schuld!“, sagte Shen Jiu wütend, „Es ist alles wegen dir. Wir standen diesen Neuankömmlingen sowieso nicht nahe, also was, wenn er sie niedergetrampelt hätte? Warum bist du eingeschritten?! Hattest du Angst, dass unser Leben nicht unglücklich genug war?! Wenn du nicht eingegriffen hättest, hätte ich dir nicht geholfen! Wenn ich dir nicht geholfen hätte, hätte ich ihn nicht provoziert und der Qiu hätte nicht darum gebeten, mich zu kaufen! Und wenn er mich nicht gekauft hätte, wäre ich nicht hier gelandet! Eine leichte Tracht Prügel am zweiten Tag und eine schwere Tracht Prügel am dritten! Sie schlagen mich wie einen Hund!“

Dieser Junge sagte immer wieder: „Es tut mir leid, es ist alles meine Schuld.“

Wie erwartet musste jeder Freund, den er fand, bei Shen Jius Persönlichkeit so gutmütig sein, dass es schmerzhaft war, sie anzusehen. Nach Qi-Ges ununterbrochener Kette von Entschuldigungen schaffte es Shen Jius Temperament schließlich, sich abzukühlen: „Wie auch immer! Ich kümmere mich nicht um diesen Loyalitätsmist. Habe ich nie und werde es nie. Also wird dieser eine Moment alles sein, was ich für den Rest meines Lebens in mir habe. Du kannst ihn haben.“

„Ich verstehe”, sagte der Junge dankbar.

„Verdammt noch mal, das solltest du!“, sagte Shen Jiu wütend.

„Ich verstehe wirklich. Qi-Ge wird sich an diese Loyalität erinnern! In der Zukunft wird er es dir definitiv zurückzahlen.“

„Welche Zukunft?!“, spuckte Shen Jiu aus, „Jemand wie du, der sein ganzes Leben in der Hand von Menschenhändlern verbringt? Du wirst am Ende nur selbst zum Menschenhändler — das ist deine Zukunft. Nein, warte, du bist ein zu guter Mensch, du wirst es nicht schaffen, du wirst höchstens mit dem Betteln weitermachen.”

„Xiao-Jiu, ich bin gekommen, um dir das zu sagen: Ich gehe weg, also bin ich heute hier, um mich zu verabschieden.“

Geschockt setzte sich Shen Jiu sofort auf: „Gehen? Wohin gehen?“

Der Jugendliche namens Qi-Ge sagte: „Ich kann hier nicht bleiben. Die Qiu-Familie hat zu viel Reichtum und Macht in dieser Stadt. Wir können sie nicht schlagen und wir können ihnen nicht entkommen. Es gibt viele Kultivierungssekten in der Welt — ich werde mich bei einer bewerben. Sobald ich unsterbliche Techniken gelernt habe, werde ich zurückkommen, um dich zu retten.“

Shen Jius Augen strahlten plötzlich in blendender Helligkeit: „Qi-Ge, man sagt, dass es im Osten einen unsterblichen Berg gibt, wo sie jedes Jahr hoch qualifizierte Schüler rekrutieren. Gehst du dorthin?“

„Ich weiß es nicht ... Aber ich werde sie alle ausprobieren. Sicherlich wird mich wenigstens eine akzeptieren.“

„Wenn ich nur nicht hier eingesperrt wäre, könnte ich auch mit dir gehen ...“, murmelte Shen Jiu. Unerwünschter Weise erschien ein neidischer Ausdruck auf seinem Gesicht, als er auf den Spalt in der Tür starrte. Es sah so aus, als würde er etwas Bösartiges denken. Shen Qingqiu konnte nicht anders, als vor Sorge um die Person draußen zu schwitzen.

Einige Zeit verging, dann seufzte Shen Jiu: „Qi-Ge, du musst in Zukunft wirklich weniger impulsiv sein. Du vermasselst es jedes Mal. Dieses Mal hatte ich Pech, aber wenn du in Zukunft immer noch so bist, nachdem du einer dieser unsterblichen Sekten beigetreten bist, was ist dann? Was wirst du tun? Du musst ruhig bleiben!“

Er unterrichtete jemanden, der älter war als er und noch dazu in einem so zarten Alter. Es war irgendwie komisch. Doch der andere Jugendliche schien nicht im Geringsten unglücklich zu sein. Stattdessen sagte er ernsthaft: „Ich werde mich daran erinnern.“

Nun, da er Hoffnung hatte, wurde Shen Jius Stimme inbrünstig: „Du musst dich unbedingt an die Dinge erinnern, die du gesagt hast! Du musst zurückkommen, um mich zu retten!“

Qi-Ge schien heftig mit dem Kopf zu nicken: „In Ordnung“, sagte er mit Nachdruck, „Warte auf mich. Wenn ich mit der Ausbildung fertig bin, komme ich auf jeden Fall wieder — dann gehen wir gemeinsam weg von hier!“

Durch die Tür getrennt, verfielen die Jugendlichen in Schweigen.

„Bist du gegangen?“, fragte Shen Jiu.

„Noch nicht“, sagte der Junge hastig, „Ich habe darauf gewartet, dass du sprichst.“

„Qi-Ge, komm näher und lass mich dich durch den Spalt sehen“, sagte Shen Jiu, „Weil wir nicht wissen, ob du ... Wie viele Jahre es dauern wird, bis wir uns wiedersehen.“

Die Jugendliche lachte: „Du wolltest sagen, dass du nicht weißt, ob ich da draußen sterben werde, ja? Gut.”

Shen Jiu gab ein abweisendes Geräusch von sich: „Du hast es selbst gesagt! Diesmal kannst du mich nicht mit harten Worten brüsten“, er bemühte sich, näher an die Tür heranzukommen, und presste sein Gesicht an den Spalt.

Shen Qingqiu war sehr neugierig und drängte sich ebenfalls daran. Durch diesen winzigen silbernen Spalt sah er nach draußen.

 

 

 

Erklärungen:

Qi-Ge, 七哥: So wie Jiu 'Neun' bedeutet, bedeutet Qi in ähnlicher Weise 'sieben'.




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