Kapitel 86 ~ Extra: Lied von Zhuzhi (Gedicht des Bambuszweigs)

Zhuzhi-Lang wusste schon lange, dass er ein ekelhaftes Monster war.

Sogar an der südlichen Grenze, wo es vor Monstern wimmelte, galt er als ein Monster unter Monstern.

Damals hieß er noch nicht Zhuzhi-Lang, denn er hatte als Monster keinen Namen besessen. Im Allgemeinen hatte sich niemand genug gelangweilt, wenn er einem Ding halb Mensch, halb Schlange, das über den Boden gleitete, begegnete, um daran zu denken, ihm einen Namen zu geben. Selbst wenn sie gelangweilt genug waren, zogen es die südlichen Grenzdämonen vor, ihm ein paar Tritte zu verpassen, ihm in den Schwanz zu stechen oder dieses seltsame kleine Ding mit einem müden Blick zu studieren, um zu sehen, ob man es überhaupt zu Tode schlagen konnte.

Sein Tagesablauf war sehr einfach: Gleiten, nach Wasser suchen, gleiten, nach Nahrung suchen, gleiten, beißen und mit anderen bestienartigen Dämonen kämpfen.

Obwohl es ihm an einem beeindruckenden Erscheinungsbild mangelte, war er im Kampf nicht allzu sehr im Nachteil. Im Gegenteil, sein Körper war nicht nur flexibel und agil, sein widerliches Aussehen störte und lenkte seine Gegner im Kampf oft ab.

Daher war dieses seltsame kleine Ding, das sowohl hässlich als auch lästig war, an der südlichen Grenze äußerst unbeliebt.

Als er ihn zum ersten Mal sah, starrte sogar ein gebildeter Adliger wie Tianlang-Jun ihn eine Weile von oben bis unten an, bevor er mit aller Aufrichtigkeit sagte: „Du bist so hässlich.“

Wie zu erwarten war, sagten die schwarz gepanzerten Generäle, die apathisch hinter ihm standen, nichts.

Viel zu hässlich“, wiederholte Tianlang-Jun. Es war ungewiss, bei wem er sich darüber beschwerte.

In diesem Satz lag viel Betonung. Als seltsames kleines Ding wich er zurück.

Andererseits hatte es irgendwie das Gefühl, dass die Kritik dieses geschätzten Adligen keinen wahren Ekel enthielt. Er hatte bis dahin schon viele, viele Male angewiderte Blicke gesehen und sie waren nicht so gewesen.

Tianlang-Jun ging anmutig in eine halbe Hocke und starrte ihn an: „Erinnerst du dich an deine Mutter?“

Er schüttelte den Kopf.

„Oh“, sagte Tianlang-Jun, „Das ist auch gut. Wenn ich so eine Mutter gehabt hätte, würde ich es auch vorziehen, mich nicht an sie zu erinnern.“

Es wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Selbst wenn er es gewusst hätte, hätte er es natürlich nicht sagen können. Alles, was er tun konnte, war ein heiseres Zischen auszustoßen.

Tianlang-Jun lächelte: „Allerdings gibt es einige Dinge, die man dir sagen sollte. Deine Mutter ist tot. Ich bin ihr älterer Bruder. Um ihren letzten Wunsch zu erfüllen, bin ich zu dir gekommen.“

Dämonen waren kaltblütig. Wenn es um den Tod eines Blutsverwandten ging, konnte jeder von ihnen unbekümmert darüber sprechen und es mit einer einzigen Zeile beschönigen. Als seltsames kleines Ding fühlte er nichts besonderes. Er nickte nur aus Gewohnheit steif.

Tianlang-Jun schien das langweilig zu finden: „In Ordnung“, sagte er trocken, „Ich habe mich um ihren letzten Wunsch gekümmert. Alle von denen sind deine Untergebenen. Von nun an wird dieses Stück Land dir gehören.“

Die Untergebenen, auf die er sich bezog, waren diese Hunderte von Generälen in schwarzen Rüstungen. Obwohl diese Dinge keinen Verstand hatten und nicht denken konnten, fürchteten sie weder Schmerz noch Tod und sie würden niemals aufhören, keine Müdigkeit zu spüren. Sie bildeten eine unbesiegbare, alles erobernde Armee und Tianlang-Jun hatte sie tatsächlich aus einer Laune heraus zu einem Monster gebracht, das halb Mensch, halb Schlange war.

Tianlang-Jun stand auf, drehte sich um und klopfte den nicht existierenden Staub von seinem Saum, wandte sich dann ab und ging.

In einer unerwarteten Bewegung schwankte das seltsame kleine Ding, das noch nicht Zhuzhi-Lang war, auf der Stelle, bevor er sich hinter ihm her schlängelte.

Tianlang-Jun blickte verwirrt zurück. „Was folgst du mir jetzt?“

Der Schlangenmann wagte es nicht, sich zu bewegen. Bei diesem Anblick machte Tianlang-Jun einen weiteren Schritt nach vorn und er begann wieder hinter ihm zu gleiten und sich zu winden.

Tianlang-Jun blieb auf der Stelle stehen und fragte verwirrt: „Kannst du mich nicht verstehen?“

Diese Szene wiederholte sich einmal, zweimal, dann dreimal. Am Ende ignorierte Tianlang-Jun das Ding einfach und ging mit auf den Rücken gefalteten Händen weiter. Der Schlangenmann folgte ihm unbeholfen.

Tianlang-Jun hatte ein besonderes Dasein: Sein Blut war edel und sein Status außergewöhnlich, also hatte er natürlich keinen Mangel an Feinden. Als der Schlangenmann ihm folgte, kam unzähliges Gesindel, um ihm Schwierigkeiten zu bereiten. Obwohl Tianlang-Jun offensichtlich keine Hilfe von außen brauchte, war der Schlangenmann immer bereit, um mit all seiner Kraft zu kämpfen, und bot seine mageren Kampffähigkeiten an.

Dies geschah unzählige Male, bis Tianlang-Jun schließlich die Existenz dieses Dings nicht mehr ignorieren konnte.

Er warf dem zerschlagenen und geschundenen Schlangenmenschen zwei Blicke zu und gab sein Urteil ab: „Immer noch so hässlich.“

Verwundet wich der Schlangenmann zurück.

Tianlang-Jun lächelte wieder: „Und auch stur. Das ist nicht sehr sympathisch.“

Selbst nachdem er ihm die ganze Zeit gefolgt war, war der Schlangenmann kein einziges Mal vor den vielen Schwierigkeiten und Hindernissen zurückgewichen. Aber als er mit dieser unfreundlichen Bewertung konfrontiert wurde, war er von dem Impuls erfüllt, sich umzudrehen und wegzulaufen — nein, zu gleiten.

Er hätte nie gedacht, dass Tianlang-Jun im nächsten Moment eine bloße Hand auf seinen Kopf legen und seufzen würde: „Sowohl hässlich als auch stur. Ich kann es nicht länger ertragen, das mit anzusehen.“

Ein seltsamer und sanfter Fluss, sowohl warm als auch kalt, strömte durch alle seine Gliedermaßen und Knochen.

Aber wie konnte er Gliedmaßen haben?

Der Schlangenmann erkannte sehr schnell, dass seinem einst verformten Oberkörper ohne sein Wissen vier vollkommen unversehrte Gliedmaßen entsprossen waren. Darüber hinaus waren zehn Finger, — Dinge, die er exquisit, aber für unerreichbar gefunden hatte —, auf seinen neuen Handflächen erschienen.

Es war der Körper eines Jugendlichen. Der Körper war etwa fünfzehn bis sechzehn Jahre alt, sein Teint hell und die Figur schlank, gesund und vollständig.

Tianlang-Jun zog seine Hand weg. Seine pechschwarze Iris reflektierte eine weiße Silhouette, und während er das Kinn des Jugendlichen hielt, sagte er: „Ich denke, das sieht ein bisschen besser aus. Irgendwelche Gedanken?“

Der andere öffnete den Mund und wartete darauf zu sprechen. Er hatte es endlich geschafft, die Gestalt eines Mannes anzunehmen, doch so sehr er es auch versuchte, sein Mund und seine Zunge gehorchten seinen Befehlen nicht. In dem Moment, als er seinen Mund öffnete und ein leicht schwerfälliges Geräusch entwich, floss eine warme Flüssigkeit aus seinen Augen.

 

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Obwohl Zhuzhi-Lang fest davon überzeugt war, dass sein Herr nichts falsch machen konnte, dachte er insgeheim, dass das Gehirn seines Herrn nicht allzu scharf war.

Selbst nachdem Zhuzhi-Lang für eine lange Zeit die stillschweigende Erlaubnis erhalten hatte, an Tianlang-Juns Seite zu sprechen, hatte er keinen Namen.

Tianlang-Jun gab den Leuten um ihn herum nicht oft Befehle, also nannte er die Jugendlichen nicht beim Namen. Daher verbrachten sie viele Monate in einem Durcheinander.

Eines Tages wollte Tianlang-Jun eine bestimmte Gedichtsammlung aus dem Menschenreich finden. Er warf Kisten und Schränke um, konnte sie aber nicht finden und erst, als er gezwungen war, jemanden um Hilfe zu rufen, erinnerte er sich plötzlich daran, dass er einen Neffen hatte, dessen Anwesenheit ungefähr der eines Flecks leerer Luft entsprach und der saß gerade in der Ecke seines Arbeitszimmers.

Aber nachdem er: „Hey“, gerufen hatte, wusste er nicht, was er als Nächstes sagen sollte. Tianlang-Jun runzelte die Stirn und dachte eine Weile nach, dann sagte sie: „Habe ich dich nie nach deinem Namen gefragt?“

„Mein Herr, dieser Untergebene hat keinen Namen“, antwortete sein Neffe ehrlich.

„Wie kannst du keinen Namen haben?“, fragte Tianlang-Jun verwirrt, „Das ist so seltsam. Wie soll ich dich dann nennen?“

„Wie auch immer mein Herr mich nennen möchte“, während er die Gedichtsammlung herauszog, wo Tianlang-Jun sie zuletzt hingelegt hatte, nachdem er die Lektüre beendet hatte. Dann präsentierte er sie seinem Herrn mit beiden Händen.

Tianlang-Jun war sehr zufrieden. Als er die Sammlung entgegennahm, sagte er: „Es ist kein großes Problem, keinen Namen zu haben. Wir können dir einfach einen geben.“

Nachdem er mit gesenktem Kopf wahllos ein paar Seiten durchgeblättert hatte, wählte er aus einer Laune heraus einen Satz: „Lass uns dich Zhuzhi-Jun nennen.“

Mit seinen scharfen Augen hatte er den Text ein oder zwei Mal überflogen.

Bei zarten, grünen Weiden über ruhigen Flusswassern /

höre ich meinem Geliebten zu, wie er sein Lied am Ufer singt. /

Die Sonne geht im Osten auf, während Regen den Westen trübt / Hier vermischen sich klarer Himmel und Dunkelheit in Eintracht.

Bambuszweiglied, Zhuzhi-Ci.

Sein Neffe schüttelte den Kopf.

„Magst du ihn nicht?“, fragte Tianlang-Jun. Er reichte ihm das Buch: „So wählerisch. Dann such dir selbst einen aus.“

Sein Neffe wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte: „Mein Herr, nur Adlige können einen solchen Titel führen.“

„So penibel, selbst in deinem zarten Alter“, sagte Tianlang-Jun, „Gut, dann nennen wir dich Zhuzhi-Lang.“

Alles, was Tianlang-Jun tat, war leichtfertig. Er hatte diesem Neffen leichtfertig ein Leben geschenkt und er hatte ihm leichtfertig einen Namen gegeben. Und in diesem Moment und an diesem Ort wurde 'Zhuzhi-Lang' dank ihm leichtfertig geboren.

Aber, egal, wie sorglos, wie kindisch sein Verhalten war, er war immer noch Tianlang-Jun, die Person, für die Zhuzhi-Lang sowohl Feuer als auch Flut trotzen würde, für die er zehntausend Leben opfern würde.

Man konnte sich kaum vorstellen, dass Tianlang-Jun auch darüber nachdachte, ob sein Neffe zu viele Jahre als Schlange verbracht hatte und deshalb ein bisschen dumm geworden war.

Besagter Neffe weigerte sich, ihn 'Onkel' zu nennen, und bestand darauf, ihn 'mein Herr' zu nennen. Er weigerte sich, ein sorgloser Anführer an der südlichen Grenze zu sein und folgte stattdessen Tianlang-Jun, um Laufbursche zu werden. Er lehnte sogar einen guten Namen ab und bestand darauf, sich selbst herabzustufen.

Er war wirklich ein bisschen dumm. Aber ein Verstand, der nicht scharf war, war ein lebenslanges Problem, also konnte man ihm nicht helfen.

Lass ihn machen, was er will.

Tianlang-Jun liebte wirklich alles, was mit Menschen zu tun hatte.

Wahrscheinlich hatte er das Gefühl, dass die Dämonen ein kalter und langweiliger Haufen seien. Doch wenn es um die Menschen ging, hegte er eine seltsame Leidenschaft für und ein schönes geistiges Bild von dieser fremden Rasse. Manchmal war es schon fast übertrieben.

Jedes Mal, wenn er irgendwohin ging, war sein häufigstes Ziel das Grenzland. Er passierte die Grenzmarkierungen und bei seinen kurzen Aufenthalten trank er etwas Wein, während er sich Geschichten anhörte. Aber bei seinen langen Aufenthalten war es nicht ausgeschlossen, dass er ein ganzes Jahr — oder sogar länger — durch das Menschenreich reiste.

Tianlang-Jun war wahrscheinlich nicht der Typ, der gerne verfolgt wurde. Er entließ seine schwarz gepanzerten Generäle oft zu Hunderten oder Tausenden. Aber was Zhuzhi-Lang betraf, so redete dieser erstens nicht zu viel und zweitens stand er nicht im Weg.

Er folgte Tianlang-Jun nur schweigend, also wäre es nicht viel anders gewesen, wenn es ihn überhaupt nicht gegeben hätte. Manchmal half er aus, indem er die Rechnung bezahlte oder Besorgungen machte und er war sowohl praktisch als auch rücksichtsvoll, sodass er seinen Onkel nicht besonders ärgerte.

Selbst als er sich mit diesem Fräulein Su traf, machte es keinem von beiden etwas aus, dass Zhuzhi-Lang mitkam. Als wären sie einer Meinung, gaben sie beide vor, Zhuzhi-Lang sei eine echte Schlange, die weder die normale Konversation noch den intimeren Austausch verstehen könnte. Sie konzentrierten sich aufeinander und taten so, als wäre er nicht da.

Nur einmal versuchte Tianlang-Jun, Zhuzhi-Lang zu vertreiben, und sagte ihm sogar: „Verschwinde.“

Als jemand, der immer nach Anmut und Raffinesse gestrebt hatte, war dies eine der derbsten Ausdrücke gewesen, die er je benutzt hatte.

 

 

 

Erklärungen:

Bambuszweiglied, Zhuzhi-Ci ist ein Gedicht von Liu Yi, dass die widersprüchlichen Gefühle eines verliebten Mädchens ausdrückt. Das Original bedient sich eines schwer zu übersetzenden Wortspiels, da ‘klar’ und ‘Liebe’ im chinesischen Homonyme sind.




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