Kapitel 87 ~ Extra: Lied von Zhuzhi 2 (Gedicht des Bambuszweigs)

Der Bai Lu-Berg.

Wie das erste Treffen von Tianlang-Jun und Su Xiyan ausgesehen hatte, hatte Zhuzhi-Lang nicht selbst miterlebt. Damals hatte er auf Wunsch von Tianlang-Jun für das neueste Werk eines berühmten Autors Schlange gestanden.

Anfangs verspürte er keine Neugier bei ihren Treffen. Aber nachdem es passiert war, verfiel Tianlang-Jun für lange Zeit in einen seltsamen Zustand.

Während Zhuzhi-Lang als schlangenförmiges Transportmittel fungierte, sagte Tianlang-Jun von seinem Sitz auf seinem Kopf aus: „In den Stücken, die ich gelesen habe, sind Mädchen aus dem Menschenreich übereinstimmend sanft wie Wasser, rücksichtsvoll und charmant. Ich dachte, dass alle Mädchen so sein würden. Also wurde ich belogen. Zhuzhi-Lang, man sollte nicht zu viele Theaterstücke lesen.“

Dann, ein andermal, erfreute sich sein Herr — der es endgültig vergessen hatte, dass man nicht zu viele Theaterstücke lesen sollte — eines weiteren Genusses, als er sagte: „Mag ich jemanden, der Dinge nicht tragen kann? Oder jemand, der so arm ist, dass er sich nicht einmal die Reise nach Hause leisten kann?“

Dann, während Zhuzhi-Lang seine Wäsche wusch, hockte sich Tianlang-Jun anmutig neben ihn und sagte: „Zhuzhi-Lang, was hältst du von meinem Gesicht? Ist es nicht hübsch? Sollte normalerweise nicht jeder, der mein Gesicht erblickt, sich sofort in eine junge Frau verwandeln, die sich zärtlich in mich verliebt?“

Zhuzhi-Lang schüttelte die ausgewrungenen Kleidungsstücke aus und hängte sie respektvoll an eine Bambusstange. Dabei dachte er daran, wie er schon so manches unsinnige Stück seines Herrn gelesen hatte. Er wusste nicht, wie andere Leute waren, aber sein Herr benahm sich wirklich ziemlich ähnlich wie die verliebten Mädchen im Jugendalter in diesen Büchern.

Daher wurde er unweigerlich neugierig.

In Zhuzhi-Langs Vorstellung war sie ein Mädchen, das ganz allein in eine verlassene Stadt voller unruhiger Dämonen gekommen war und während sie diese böse Dämonen vertrieben hatte, hatte sie zu Tianlang-Jun gesagt, er solle weiter entfernt singen und seine Musik spielen, damit er nicht im Weg stehen würde und nachdem sie ihn weggeschickt hatte, hatte sie Tianlang-Jun drei Silberstücke überreicht und gesagt, dass es Geld für seine Heimreise sei. Nun ja, ... auch wenn sie nicht stämmig und schwerfällig wie normale Kultivierer war, sollte sie zumindest wie eine Meisterin der Kampfkünste aussehen mit grimmigen und wilden Augen.

Als er schließlich die Schuldige hinter Tianlang-Juns Anfall philosophischer Seelenforschung traf, mit der er Zhuzhi-Lang viele Tage lang gequält hatte, erkannte er, dass die fragliche Schuldige nicht so war, wie er sie sich vorgestellt hatte.

Tianlang-Jun liebte es, durch das Menschenreich zu wandern und um durch das Menschenreich zu wandern, musste man Geld ausgeben. Doch er dachte nie daran, welches mitzunehmen. Zhuzhi-Lang konnte sich also nur für ihn erinnern. Tianlang-Jun hatte jedoch keine Vorstellung vom Wert des Geldes und kannte daher keine Zurückhaltung. Wann immer er sich galant fühlte, gab er tausend und mehr auf einmal aus und es war für Zhuzhi-Lang unmöglich, ihn aufzuhalten. Mit diesen Ausgabegewohnheiten wäre es schwierig gewesen, selbst wenn sie einen Berg aus Gold oder ein Meer aus Silber gehabt hätten. So waren sie am Ende stets konsequent pleite.

Gerade als diese beiden Touristen mittellos auf der Straße standen, schlenderte eine große, schwarz gekleidete Frau mit einem Schwert auf dem Rücken vorbei.

„Halt“, sagte Tianlang-Jun.

Als ihre Schultern sich berührten, hob diese Frau leicht eine Augenbraue, ein spöttisches Lächeln kräuselte einen Winkel ihrer Lippen und sie blieb tatsächlich stehen.

„Wenn du unterwegs ein Unrecht siehst“, sagte Tianlang-Jun, „solltest du dann nicht dein Schwert ziehen, um Hilfe zu leisten?“

„Wenn es darum geht, ihr Schwert zu ziehen, wird diese Demütige darüber nachdenken“, sagte die Frau, „Umgekehrt, wenn es darum geht, ihren Geldbeutel zu öffnen, weigert sich diese Demütige — denn du hast die drei Silberstücke, die ich dir das letzte Mal geliehen habe, noch nicht zurückgegeben.“

„Ist das so?“, fragte Tianlang-Jun, „Es sind nur drei Silberlinge. Gut, wenn du mir noch drei leihst, kannst du mich für drei Tage kaufen.“

Die Frau weigerte sich rundweg: „Dein distinguiertes Selbst sieht nicht stark genug aus, um irgendwelche Lasten zu tragen. Eher sieht es aus wie bei jemanden, der nie gearbeitet hat und der Weizen nicht von Reis unterscheiden kann. Was bringt es, dich zu kaufen?“

Zhuzhi-Lang beobachtete dies lange Zeit, dann sagte er offen: „Mein Herr, ich fürchte, dass diese … Euch herabsetzt, weil Ihr zu teuer seid.“

Tianlang-Jun wurde tatsächlich herabgesetzt. Das war nicht neu: Manchmal verachteten ihn auch die Diener und Wächter, die ihm dienten, heimlich, besonders wenn er seine leidenschaftlichen und dramatischen Rezitationen vorführte. Aber dass ihm gesagt wurde, er sei weniger als drei Silber wert? Das war ein bisschen viel.

„Lass uns das alles erst einmal beiseite legen“, sagte Tianlang-Jun, „Mein Gesicht kann doch nicht weniger als drei Silber wert sein!“

Die Frau verschluckte sich ein wenig, dann betrachtete sie eine Weile sein Gesicht und lächelte: „Mm, stimmt, es ist so viel mehr wert.“

Dann warf sie ihm einen schweren Goldbarren zu.

Von da an war es, als wäre ein Damm gebrochen und Tianlang-Juns Ausgaben brachen im Menschenreich wie eine Flut herein. Er wurde noch hemmungsloser, noch freier, bis zu dem Punkt, an dem es erschreckend war, ihn zu beobachten. Er hatte einen reichen Gönner gefunden, einen Berg aus Gold. Immer wenn Zhuzhi-Lang mit einem leicht verlegenen Gesichtsausdruck einen leeren Geldbeutel herauszog, ging Tianlang-Jun glücklich und gedankenlos zu diesem Berg und klopfte an dessen Tore.

Zhuzhi-Lang wurde das Gefühl nicht los, dass etwas daran nicht stimmte, — dass etwas falsch war.

Warum benahm sich Su Xiyan wie eine dieser wohlhabenden jungen Meister der Theaterstücke mit ihren angesehenen Statuten und einem Haufen Geld?

Warum benahm sich Tianlang-Jun wie eine dieser verwöhnten jungen Damen, die von zu Hause weggelaufen waren und die Welt nicht kannten?

Und warum benahm sich Zhuzhi-Lang wie das umsichtige Dienstmädchen, das diese Dame begleitete, Besorgungen machte und Gelegenheitsjobs erledigte?

Zhuzhi-Lang hatte versucht, seinen Herrn auf diesen Rollentausch aufmerksam zu machen. Ihm zu sagen, dass er seine Würde als höchster Herrscher des Dämonenreiches zurückerhalten müsse, aber Tianlang-Jun schien Gefallen an dieser Sugardaddy-Sugarbaby-Beziehung zu finden. Die blinde Leidenschaft, die er in der Vergangenheit auf die gesamte Menschheit gerichtet hatte, ergoss sich jetzt vollständig auf eine einzige Person.

Su Xiyan war wirklich kalt und rücksichtslos, aber dennoch eine ganz außergewöhnliche Person.

Als sie sich trafen, nahm sie sie mit zu verschiedenen, seltenen und wunderbaren Dingen und zu allen möglichen interessanten und faszinierenden Orten. Verbotene Kodizes, die Zhuzhi-Lang trotz aller Bemühungen nicht finden konnte. Einen wundersamen Geisterpilz in einer bestimmten verborgenen Höhle. Einen Tausee mit Wasser, das wie Kristall glänzte. Eine obskure, aber wunderbar geschickte, Pipa-spielende Prostituierte. Wenn sie nicht zusammen waren, sahen sie zehn bis fünfzehn Tage lang keine Spur von ihr und konnten sie nicht finden, so sehr sie es auch versuchten.

Sie zuckte nie mit der Wimper, drückte keine Spur von Verliebtheit aus oder sprach von Sehnsucht. Sie hatte ihre eigenen Pläne und Berechnungen und sie sah stets kalt von der Seite aus zu.

Da die Hälfte seines Blutes von der Schlangenrasse stammte, besaß Zhuzhi-Lang eine Art natürlichen tierischen Instinkts. Er spürte schwach, dass diese Person, die sich ihnen immer wieder näherte, ein äußerst gefährliches Wesen war.

Sie war nicht wie Dämonenfrauen mit ihrem bezaubernden Zauber. Stattdessen war sie ernst und energisch, obwohl sie den Eindruck machte, kultiviert und höflich zu sein. Doch es war tatsächlich nur der Eindruck von Vornehmheit und Höflichkeit.

Zhuzhi-Lang wagte nicht anzunehmen, dass er tatsächlich leicht davonkommen würde, wenn es jemals zu einem wahren, brutalen Kampf kam.

Unter der raffinierten Oberfläche lagen Arroganz und Gleichgültigkeit zusammen mit einem Ehrgeiz, der ihre Intrigen noch mehr verbarg. Als Stellvertreterin des Huan-Hua-Palastes genoss Su Xiyan einen hohen und erhabenen Status und befehligte Tausende auf Schritt und Tritt. Darüber hinaus war die Kultivierungswelt, die der Huan Hua Palast an der Seite der anderen großen Sekten führte, seit alten Zeiten der Feind der Dämonenrasse. Su Xiyan war für sie tatsächlich jemand, die unglaublich gefährlich war.

Zhuzhi-Lang berichtete ausführlich über alle Informationen, die er herausgefunden hatte. Doch Tianlang-Jun war nicht im Entferntesten besorgt. Sobald er sich in etwas verliebt hatte, missachtete er sogar Leben und Tod, setzte alles auf eine Karte. Es war nicht so, dass er die Wahrheit nicht kannte. Er zeigte einfach trotzdem nie Zweifel.

Der Preis dafür, niemals an ihr zu zweifeln, war, für mehr als zehn Jahre unter der sonnenlosen, himmellosen Dunkelheit von Bai Lu-Berg versiegelt zu werden, ohne eine Chance auf Rückkehr.

„Ich will Menschen töten.“

In diesen mehr als zehn Jahren war das die am häufigsten wiederholte Zeile von Tianlang-Jun. In der Vergangenheit hatte er die Menschen über alles geliebt, also hatte er solche Dinge nie getan.

Ohne seine enorme dämonische Energie, um Zhuzhi-Langs menschenförmige Gestalt aufrechtzuerhalten, kehrte Zhuzhi-Lang wieder zu seiner halben Schlangenform zurück. Jedes Mal, wenn Tianlang-Jun ihn mühsam hin und her rutschen sah, schlug er mit einem: „Verschwinde!“, zu.

Oder er sagte: „Dein Gleiten ist viel zu hässlich.“

Zhuzhi-Lang glitt dann lautlos hin und her und suchte draußen nach einem Ort, der von Sonne und Mond unberührt war. Dort übte er weiterhin sein Gleiten, das ihm nun seit Jahren der Nichtbenutzung verwehrt geblieben war.

Tianlang-Juns 'Verschwinde', sagte ihm 'Verschwinde zum Dämonenreich' oder 'Verschwinde zur südlichen Grenze' oder 'Verschwinde zu deiner alten Heimat' oder 'Verschwinde überall hin', solange er nicht in der Nähe von Tianlang-Jun blieb.

Tianlang-Jun konnte es nicht ertragen, dass andere ihn so elendig und unterdrückt sahen, in einem Zustand, in dem er weder um Leben noch um Tod betteln konnte. Seit seiner Geburt war er der angesehenste Kronprinz der Dämonenrasse. Er hatte nie Leid gespürt, war immer gefasst und elegant gewesen und hatte alles Rohe und Vulgäre abgelehnt, das seinen Ruf ruinieren würde. Er hatte sogar eine leichte Mysophobie. Er hatte alles Hässliche gehasst. Aber jetzt, so wie er war, war er hässlicher als alle anderen.

Blutüberströmt war er unter zweiundsiebzig Metallketten und neunundvierzig Papiertalismane eingesperrt worden, gezwungen, jeden Tag zuzusehen, wie sein Körper langsam verrottete und zu stinken begann, während sein Geist völlig klar blieb, und er konnte nicht einmal das Bewusstsein verlieren, so sehr es sich auch wünschte. Diese Gruppe aus der Kultivierungswelt hatte nicht die Fähigkeit, ihn direkt zu töten, also hatten sie sich jede mögliche Methode ausgedacht, um ihn stattdessen zu quälen. Sogar Zhuzhi-Langs hässliche Halbschlangengestalt sah in diesem Zustand etwas besser aus als Tianlang-Juns.

Nachdem Zhuzhi-Lang zu seiner alten Form zurückgekehrt war, konnte er nicht mehr sprechen, also begann Tianlang-Jun, mit sich selbst zu sprechen. Jeden Tag rezitierte er fast die Hälfte der Stunden die Lieder und Dialoge aus diesen Stücken. Manchmal, wenn Tianlang-Jun sang, hörte er abrupt auf, als hätte man ihm die Kehle durchgeschnitten. Zhuzhi-Lang wusste dann, dass es sich um ein Theaterstück handeln musste, zu dem Su Xiyan sie mitgenommen hatte.

Aber nach einer Pause fing Tianlang-Jun genauso abrupt wieder an und fuhr mit lauterer Stimme fort. Zwischen seiner heiseren Kehle und dem menschenleeren Tal trieben die verweilenden Melodien, lang und lang gezogen. Lang gezogen und herzerwärmend.

Zhuzhi-Lang konnte nicht sprechen. Er konnte ihm nicht sagen, das er 'aufhören solle zu singen'. Er konnte seine Arme nicht heben. Konnte seine Ohren nicht bedecken. Konnte nicht ertragen, was es bedeutete, 'völlig machtlos' zu sein.

Wenn dich etwas traurig macht, wenn dir etwas Schmerzen bereitet, warum solltest du dich dann weiterhin dazu zwingen?

Das Einzige, was er tun konnte, war, Tag für Tag beharrlich Blätter zu verwenden, um das Wasser des Tausees zu tragen und es Tropfen für Tropfen zu Tianlang-Jun zu bringen, um seine ewig nicht heilenden Wunden zu reinigen.

 

_____________________________

 

In all den Jahren erfuhren sie nie von Luo Binghes Existenz. Außerdem gelang es Su Xiyan nicht wie erwartet, ihre Machtposition einzunehmen. Stattdessen verschwand sie lautlos an einen unbekannten Ort. Selbst, lange nachdem sie wieder Sonne und Himmel begrüßt hatten, hatten sie es immer noch nicht erfahren.

Als Zhuzhi-Lang dieses Gesicht zum ersten Mal an der südlichen Grenze sah, war er daher so schockiert, dass er vergaß, die Aufgabe zu erledigen, mit der er beauftragt worden war. Nach dem Kampf ging er direkt zurück und meldete sich bei Tianlang-Jun.

Daher hatte es die Schlacht am Heiligen Mausoleum gegeben.

Nachdem er Shen Qingqius bewusstlosen Körper nach der Schwertübergabe ausgespuckt und damit begonnen hatte,  Vorkehrungen für seine Wundbehandlung zu treffen, spürte Zhuzhi-Lang, dass er von Tianlang-Jun angestarrt wurde.

Während sein Neffe zielstrebig brennende Kohlen mit einem Rohrkolbenfächer anfachte, fragte Tianlang-Jun schließlich: „Glaubst du, er ist wie ich oder wie sie?“

Zhuzhi-Lang wusste genau, auf wen sich dieses 'er' und 'sie' bezog.

„Hat es mein Herr nicht selbst gesagt? Er ist wie seine Mutter.“

Tianlang-Jun schüttelte den Kopf und lächelte: „So wie sie vorgab, gefühllos zu sein ...“

In Wahrheit wussten beide, dass Luo Binghes Tendenz, an anderen zu hängen und von ihnen abhängig zu sein und sein völliger Mangel an Vorbehalten in seiner hartnäckigen Verliebtheit eher Tianlang-Jun ähnelten.

Tianlang-Jun stützte seine Wange auf eine Hand, während er Shen Qingqiu mit geschlossenen Augen beobachtete und seufzte: „Aber er hat viel mehr Glück als ich.“

Die Person, die Luo Binghe nicht loslassen wollte, war jemand wie Shen Qingqiu. Das war in der Tat ein Glücksfall.

Wenigstens würde Shen Qingqiu nicht die gesamte Kultivierungs-welt zusammenrufen, um Luo Binghe unterhalb des Cang-Qiong-Berg zu versiegeln.

Außerdem hatte es bisher nur zwei Personen auf dieser Welt gegeben, die Zhuzhi-Langs hässliches Aussehen nicht angewidert betrachtet hatten.

Einer war Tianlang-Jun und der andere war Shen Qingqiu.

„Wie wäre es?“, fragte Tianlang-Jun, „Willst du dieses Glück für dich stehlen?“

Zhuzhi-Lang starrte Tianlang-Jun lange an, bevor er verstand, was er meinte. Dann wurde er knallrot: „Mein Herr!“

„Stehl es, stehl es“, sagte Tianlang-Jun, „Wir sind alle Dämonen — warum sollte man sich über so etwas aufregen? Außerdem ist er nur dein jüngerer Cousin. Wovor hast du Angst? Der letzte Herr des Mobei-Clans hat sogar offen die offizielle Frau seines jüngeren Bruders gestohlen!“

„Ich habe solche Wünsche nicht!“

Tianlang-Jun war verwirrt: „Warum ist dann dein Gesicht so rot?“

Zhuzhi-Lang erklärte ihn geduldig: „Mein Herr … wenn Ihr mich nicht gebeten hättet, all diese Bücher zu finden, oder mir gesagt hättet, sie mit Euch zu lesen, oder sie laut rezitiert hättet, um mich zu zwingen, sie zu überprüfen, wäre das Gesicht dieses Untergebenen definitiv nicht rot geworden.“

Durch diesen Austausch hallten ab und zu seltsame Dinge in seinen Ohren wider, die es ihm unmöglich machten, den Unsterblichen Meister Shen mit gutem Gewissen anzusehen.

Zhuzhi-Lang verstand, warum Tianlang-Jun ihn für gewöhnlich so neckte. Unter all dem Aufziehen war der Wunsch, nachzuforschen und zu provozieren.

Von dem Tag an, als er aus dem Bai Lu-Berg in die Sonne und unter den Himmel trat, hatte Tianlang-Jun nicht geplant, seinen neuen Körper lange zu benutzen, und er hatte auch keine Pläne für die Zukunft.

Aber als er Shen Qingqiu gesehen hatte, hatte Tianlang-Jun tatsächlich eine Art Erleichterung verspürt. Er hatte gedacht: Endlich ist jemand da, dem ich meinen törichten Neffen anvertrauen kann.

Zhuzhi-Langs dummes Gehirn konnte sich nur um andere Menschen drehen. Er hatte nie an sich gedacht. Wenn er eine neue Person finden könnte, der er folgen könnte, dann würde er selbst, nachdem Tianlang-Jun getötet worden war, nicht verloren gehen und nirgendwo hingehen können. Tianlang-Jun dachte, dass Shen Qingqiu kein schlechtes Ziel sei, um ihm zu folgen, egal, um welche Art von 'Folgen' es sich handelte.

Nachdem Tianlang-Jun diesen mysteriösen Seelenfrieden erlangt hatte, wurde er immer rücksichtsloser, indem er seine dämonische Energie herumschleuderte, und die Verschlechterung und der Verfall seines Körpers beschleunigten sich Tag für Tag bis zu dem Punkt, dass sein Arm oder seine Finger oft abfielen. Zhuzhi-Lang war bis zur Erschöpfung überwältigt, während er versuchte, Mittel zu finden, um ihn zu 'reparieren'.

Einmal versuchte er, mit Nadel und Faden die Gliedmaßen seines Herrn zu flicken. Tianlang-Jun streckte seinen Arm aus, damit Zhuzhi-Lang stechen konnte, wie er wollte und sagte: „Deine Instinkte waren immer sehr genau.“

Zhuzhi-Lang gab eine Bestätigung.

„Zwischen mir und Luo Binghe. Wer wird gewinnen und wer wird verlieren?“

Nach langem Schweigen sagte er träge: „Auch wenn du es nicht sagst, ich weiß es. Ich werde ganz klar verlieren.“

Zhuzhi-Lang biss den Faden ab und machte einen Knoten.

„Wie wäre es, wenn du nach dem heutigen Tag Gipfelherr Shen folgst?“, fragte Tianlang-Jun, nicht ganz aufrichtig, „Er kümmert sich bereits um Luo Binghe. Sich auch um dich zu kümmern, sollte sich nicht zu sehr davon unterscheiden.“

„Mein Herr sollte schlafen“, sagte Zhuzhi-Lang.

Aber Tianlang-Jun redete weiter Unsinn. „Gehst du heute Abend nicht zum Zelt des Unsterblichen Meisters Shen, um ihm zu helfen, die 'Qi-Bindungsblume' zu entfernen? Du hast zugehört, als ich fragte, ob er und Luo Binghe sich schon einmal dual kultiviert haben. Seine Reaktion machte deutlich, dass sie es nicht getan haben. Der frühe Vogel fängt den Wurm. Verstehst du, was ich meine?“

Zhuzhi-Lang tat so, als könnte er nichts hören und verneigte sich, um Tianlang-Jun die Schuhe auszuziehen. Aber Zhuzhi-Langs Hände blieben leer: Tianlang-Jun hatte seine Beine angewinkelt, sodass seine Schuhe fest auf dem Boden standen: „Was muss ich tun, um dein Selbstwertgefühl zu zerstören?“, fragte er ernsthaft, „Damit du den Mut verlierst und mich aufgibst — damit du gehst?“

„Mein Herr, Ihr seid so eigensinnig“, sagte Zhuzhi-Lang hilflos. Andere endlos belästigen, voller wilder Fantasien, immer mit diesen dummen Vorschlägen aufwartend.

„War ich nicht schon die ganze Zeit 'so eigensinnig'?“, fragte Tianlang-Jun, „Also, wie wäre es damit? Warum erwägst du nicht, mich zu verlassen?“

Sein Herr benahm sich heute wie ein Betrunkener. Die Zahl der Dinge, die er sagte, die Leute weder lachen noch weinen ließen, hatte sich verzehnfacht. Zhuzhi-Lang schüttelte den Kopf und streckte noch einige Male die Hand aus, bevor er schließlich Tianlang-Juns Schuhe erwischte. Er riss sie gewaltsam ab und wiederholte: „Mein Herr sollte schlafen.“

Tianlang-Jun wurde auf das Bett geschoben und gewaltsam mit einer Decke zugedeckt: „Du wirst immer mehr wie eine Mutter“, sagte er. Dann seufzte er: „Glaubst du, dein Onkel macht sich nur über dich lustig? Du drängst mich, nicht aufzuhören, noch suchst du einen Ausweg für dich selbst. Wenn du weiterhin so bist, Zhuzhi-Lang, was wirst du dann in der Zukunft tun?“

 

______________________________

 

„Wie erwartet kann ich mich nicht dazu bringen, die Menschen zu hassen.“

Tianlang-Jun hatte dies zu Shen Qingqiu gesagt.

Als Zhuzhi-Lang diese Worte hörte, freute er sich tatsächlich ein wenig für seinen Herrn.

Tianlang-Jun hatte schließlich zugegeben, dass sich sein wahres Herz nie verändert hatte. Endlich würde er sich nicht mehr zwingen müssen.

Inmitten des aufrollenden Staubs und der bröckelnden Trümmer seufzte Tianlang-Jun und murmelte: „Zhuzhi-Lang, deine Erscheinung sieht wirklich nicht gut aus.“

Diesmal musste sich Zhuzhi-Lang nicht beschweren. Es wurde nur angenommen, dass es noch ein winziges bisschen Kraft übrig hatte — genug, um noch etwas länger durchzuhalten, damit sein Herr nicht mit ihm sterben würde. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen, dass es unanständig wäre, neben ihm zu sterben.

Als sich der Mai Gu-Grat mit einem donnernden Gebrüll in Rauch und Staub verwandelte, stürzte eine riesige Schlange in Richtung des Herzens des Luo Flusses, der wie silberne Schuppen glitzerte.

In Wahrheit hatte Shen Qingqiu Tianlang-Jun noch nicht zu Ende gehört, denn nach diesem ersten Satz war ein weiterer leiserer Satz gekommen, den nur Zhuzhi-Lang gehört hatte.

Tianlang-Jun hatte gesagt: „Aber warum ist es so schwierig, einen Menschen zu lieben?“

Damals war Zhuzhi-Lang weder in der Lage gewesen zu lächeln, noch zu sprechen. Wie in Gedanken versunken, hatte er seine Zunge heraus geschnippt und Tianlang-Jun eine Ladung Schlangenspeichel ins Gesicht gesprüht.

Es ist wirklich schwierig, dachte er, Aber egal, wie schwierig es ist, es ist weniger schwierig, als sein Herz dazu zu bringen, nicht mehr zu lieben.

 

 

 

Erklärungen:

Als Mysophobie wird eine krankhafte Angst vor Kontakt mit Schmutz und vor der Ansteckung durch Bakterien, Viren und Ähnlichem bezeichnet.




⇐Vorheriges Kapitel  Nächstes Kapitel

GLOSSAR
















Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen