Kapitel 88 ~ Extra: Tiefer Traum

Nachdem er sich zum Schlafen hingelegt hatte, öffnete Shen Qingqiu seine Augen und fand sich an einem anderen Ort wieder. Dies war nicht das erste Mal, dass er eine solche Situation erlebte, also war er nicht nervös. Er wusste, dass er Luo Binghes Traumreich wieder betreten haben musste. Nachdem er eine Weile herumgetrieben war, landete er leicht auf dem Boden.

Mit jeder Fußbewegung glitt er vorwärts, während er im Wind trieb und auf Weiden trat. Prachtvolle Jade und Gold glitzerten überall um ihn herum, die Einrichtung war prächtig und extravagant — außerdem kam ihm einer der Korridore unglaublich vertraut vor. Das war zu hundert Prozent der Huan-Hua-Palast.

Er ging diesen Korridor entlang und fand am Ende den Hauptpalast und die Versammlungshalle des Huan-Hua-Palastes. In der Vergangenheit hätte Luo Binghe selbst eine Weile im Traumreich auf ihn gewartet, aber dieses Mal sah ihn Shen Qingqiu nicht. Das war seltsam.

Da war jemand in der Versammlungshalle. Als Shen Qingqiu sich diesen Rücken ansah, kam er ihm auch bekannt vor. Als er noch einmal aus der Nähe hinsah, fand er es ziemlich seltsam.

„Mu-Shidi?“, fragte er fassungslos.

Der 'Mu Qingfang', der mittig in der Halle stand, war eine Illusion, die aus Luo Binghes Erinnerungen geboren worden war, also konnte er Shen Qingqiu natürlich nicht hören. Dieses jüngere Sektenmitglied von ihm hatte schon immer ein mildes Temperament besessen, aber als Mu Qingfang in der Mitte der Versammlungshalle stand, war seine Miene frei von Wohlwollen.

Shen Qingqiu erinnerte sich, was die Jianghu-Gerüchte besagt hatten: Dass Luo Binghe Mu Qingfang, kurz nachdem er sich totgestellt hatte und entkommen war, in den Huan-Hua-Palast entführt und verlangt hatte, dass er Shen Qingqiu 'heilte'. Diese Szene musste sich während dieser Zeit ereignet haben.

Ein schwarzer Schatten ging lautlos an ihm vorbei und Luo Binghes Stimme sagte: „Mu-Xiansheng.“

Die Augen dieses Luo Binghe zeigten keine Spur von Shen Qingqius Spiegelbild und er war sich der Anwesenheit von Shen Qingqiu überhaupt nicht bewusst. Das war also auch nicht Luo Binghes wahres Selbst, sondern ebenso eine Erinnerung.

Shen Qingqiu war ein wenig verwirrt. War er in einen Teil des Traumreichs getrieben worden, das selbst der echte Luo Binghe nicht kontrollieren konnte?

Weder die Art und Weise, wie Luo Binghe ihn ansprach, noch sein Verhalten könnten als respektlos angesehen werden, also antwortete Mu Qingfang: „Dein distinguiertes Selbst sprach mich mit Mu-Xiansheng an. Bedeutet das, dass du dich als zum Cang-Qiong-Berg gehörend wieder anerkennst? Oder nicht?“

„Spielt es eine Rolle, wie ich mich anerkenne?“, fragte Luo Binghe.

„Wenn du dich selbst nicht als solchen anerkennst, warum sprichst du Shen-Shixiong dann immer noch mit 'Shizun' an? Und wenn du dich als solchen anerkennst, solltest du mich 'Shishu' nennen. Außerdem, warum hast du den Schülern des Cang-Qiong-Berges Schaden zugefügt, um mich gewaltsam hierher bringen zu lassen?“

„Ich habe Mu-Xiansheng gebeten, zu kommen, damit er sich meinen Shizun ansehen kann.“

Mu Qingfang lächelte: „Shen-Shixiong zerstörte sich vor den Augen aller Anwesenden in der Stadt Hua Yue von selbst und starb, ohne jegliche spirituelle Energie. Ich fürchte, dass zu diesem Zeitpunkt sogar sein Leichnam längst verwest und verfault sein wird. Dieser Mu weiß bereits, dass es so ist. Es gibt keine Möglichkeit, Menschen wieder zum Leben zu erwecken.“

Als Shen Qingqiu diesem Austausch von Fragen und Antworten zuhörte, brach ihm kalter Schweiß aus.

Mu Qingfangs Persönlichkeit war nicht wie die von Qi Qingqi oder Liu Qingge, die nicht die geringste Beleidigung tolerieren konnten und bei der kleinsten Sache explodierten, aber seine Antworten in diesem Moment waren nicht sehr angenehm. Obwohl Shen Qingqiu wusste, dass alles gut werden würde, konnte er nicht umhin, sich vor Angst um Mu Qingfang zu verkrampfen, weil er befürchtete, dass er Luo Binghe wütend machen und unnötiges Leid über sich bringen würde.

Glücklicherweise blieb Luo Binghe ungerührt: „Ich bitte Mu-Xiansheng nur, sich ihn anzusehen“, sagte er kalt.

Da er nun unter Luo Binghes Kontrolle stand, konnte Mu Qingfang nichts anderes tun, als einer Gruppe gelb gekleideter Schüler erlauben, ihn zum Huan-Hua-Pavillon zu eskortieren.

Die eisige Luft im Huan-Hua-Pavillon ging bis in die Knochen. Als die beiden die Schwelle überquert hatten, der eine vorne und der andere hinten, schlossen sich die großen Türen sofort hinter ihnen.

Shen Qingqiu stahl sich auf die rechte Seite ihrer Fersen.

Luo Binghe hob den hauchdünnen Vorhang über der Sitzplattform und band ihn fest. Mu Qingfang beugte sich für seine Untersuchung vor. Shen Qingqiu wollte ebenfalls hinübergehen, um einen Blick darauf zu werfen, aber unglücklicherweise sprang Mu Qingfang praktisch sofort auf, ließ den Vorhang fallen und blockierte Shen Qingqius Sicht, während sein Gesicht sich ein wenig verzog.

„Welche Methode hast du angewendet, um seinen Körper zu konservieren?“, fragte Mu Qingfang.

„Mu-Xiansheng ist der Qian-Cao-Gipfelherr“, sagte Luo Binghe sehr leichthin, „Du weißt besser als ich, wie man einen fleischlichen Körper bewahrt, ohne ihn zu zerstören.“

Nach einer langen Pause brach Mu Qingfangs ursprüngliche Haltung der indirekten Verweigerung der Zusammenarbeit schließlich zusammen: „Deine spirituelle Energie, jeden Tag gewaltsam in Shen-Shixiongs Leiche zu lenken, bringt kaum etwas — du verhinderst gerade so den Verfall seines Körpers, während du eine enorme Menge an spiritueller Kraft verbrauchst. Außerdem werden in dem Moment, in dem du für einen einzigen Tag aufhörst, alle deine vorherigen Bemühungen umsonst sein. Bei allem Respekt, Shen-Shixiong hat bereits—“

„Die medizinischen Fähigkeiten des Cang-Qiong-Gipfels sind die besten der Welt“, unterbrach ihn Luo Binghe, „Außerdem ist Mu-Xiansheng ein Gipfelherr. Du musst eine Alternative kennen.”

„Es gibt keine“, entgegnete Mu Qingfang.

Angesichts dieser Hartnäckigkeit erschöpfte sich Luo Binghes ohnehin schon dünne Geduld schließlich vollständig: „Wenn es keinen Weg gibt, denke dir einen aus!“, höhnte er, „Solange Mu-Xiansheng keine Alternative einfällt, kann er nicht zum Cang-Qiong-Berg zurückkehren!“

Mit einer heftigen Bewegung seines Ärmels sprangen plötzlich die großen Türen des Huan-Hua-Pavillons auf, was Mu Qingfang erschreckte. Bevor er sich davon erholt hatte, war er aus dem Pavillon geschleudert worden und eine Gruppe von Schülern in gelben Roben stürmte sofort nach vorne, um ihn zu packen, nachdem sie die ganze Zeit gewartet hatten. Gleich danach schlugen die Türen wieder zu.

Ein kalter Windstoß wehte durch den Pavillon. Das Kerzenfeuer darin schwankte und flackerte zwischen hell und dunkel.

Plötzlich rief Luo Binghe in seine Richtung: „Shizun …“

Shen Qingqius erste Reaktion war zu erschrecken.

Er dachte, dass der Luo Binghe in der Erinnerung ihn gesehen hatte. Er stellte jedoch bald fest, dass Luo Binghe einfach nur nach ihm rief. Er hatte keine Erwartungen, dass jemand antworten würde.

Erst nachdem Luo Binghe eine Weile im Eingangsbereich gestanden hatte, ging er langsam auf Shen Qingqiu zu. Er setzte sich auf die Seite der Plattform und zog den Vorhang wieder zu, dann starrte er benommen auf das Gesicht des Körpers.

Diese Benommenheit hielt lange an. Shen Qingqiu stand da und hatte nichts zu tun, bis es unerträglich wurde. Er verlagerte sein Gewicht nach vorn und ging dann, unfähig, es länger auszuhalten, ebenfalls zur Plattform. Während Luo Binghe auf das Gesicht seiner Leiche starrte, starrte Shen Qingqiu auf Luo Binghes. Sie starrten und starrten, bis Luo Binghe schmollte und langsam die Schärpe der Robe dieser Leiche löste.

Das Bein, auf dem Shen Qingqiu ein wenig kauerte, knickte plötzlich ein wenig ein.

Worte wie 'Die Szene war zu schön zum Anschauen' passten wirklich nicht zu diesem Moment, denn die Leiche auf der Sitzplattform... sah wirklich nicht so toll aus. Vom Hals abwärts gesprenkelt und verfärbt: Es waren die Blutergüsse des Todes.

Luo Binghe zog seine eigene äußere Robe aus. Dann, als würde er eine große Puppe anfassen, zog er die Leiche in eine Umarmung, sodass sie Haut an Haut gepresst wurden. Wenn ein Fremder das Sehen würde, würde er sich entweder zu Tode erschrecken oder er würde das Ganze überwältigend ekelhaft finden und ihm würde eine Auswahl an bösen Worten einfallen. Aber in Wirklichkeit hielt Luo Binghe nur die Leiche. Er berührte sie nicht auf unangemessene Weise.

Luo Binghes Kiefer presste sich gegen den dunklen Scheitel von Shen Qingqius Haar. Eine seiner Hände glitt die Krümmung seiner Wirbelsäule hinab und streichelte sie sanft. Dabei sandte er große Mengen spiritueller Energie in den Körper. Die grün-violetten Flecken der Hämatome verblassten und die Haut wurde wieder glatt und schneeweiß.

Diese Position und diese Bewegungen zogen beide sanft an einer Schnur in Shen Qingqius Herz.

Er erinnerte sich. Er hatte einmal die gleichen Bewegungen für Luo Binghe ausgeführt.

Es war eine Nacht gewesen, nicht lange nachdem Luo Binghe ins Bambushaus eingezogen war.

 

___________________________

 

Es war eine Winternacht. Ein eiskalter Wind heulte durch die Wälder des Qing-Jing-Gipfels, tausende von Bambushalmen raschelten in den Böen.

Shen Qingqiu hatte sich auf seinem Bett zurückgelehnt. Er schlief nicht, sondern ruhte mit geschlossenen Augen. Während er sich ausruhte kam aus der kleinen Welt auf der anderen Seite des Wandschirms ein leises, zurückhaltendes Knarren. Es war schlimm, wenn sich die Person dort hin und her wälzte und nicht einschlafen konnte.

Dann verstummten die Geräusche des unruhigen Wälzens abrupt und jemand stand leichtfüßig vom Bett auf, hob den Vorhang und verließ das Bambushaus.

Was tat Luo Binghe, wenn er mitten in der Nacht nach draußen  schlüpfte, anstatt zu schlafen? Shen Qingqiu erinnerte sich nicht an eine Zeit in der Handlung, in der Luo Binghe ein Abenteuer hatte, bei dem er sich in den frühen Morgenstunden nach draußen schleichen musste. Neugierig erhob er sich ebenfalls.

Seine Kultivierung war auf einem anderen Niveau als die von Luo Binghe und seine Bewegungen waren sowohl leicht als auch schnell. Daher bemerkte sein Schüler es überhaupt nicht, selbst als er um ihn herumgegangen war, um hinter Luo Binghes Rücken aufzutauchen.

Auch Luo Binghe war nicht weit gekommen. Er war nicht für ein Abenteuer an einen geheimen und mysteriösen Ort gegangen. Vielmehr stand er einfach im Hinterhof, bevor er sich einen kleinen Hocker heranzog, um sich darauf zu setzen. Die Kleidung an seinem Oberkörper war bereits entfernt worden; sie lagen nun ordentlich gefaltet auf seinem linken Oberschenkel, während seine rechte Hand eine kleine Menge von etwas in seine linke Handfläche goss, die er dann auf seinen Körper auftrug. Als er sich danach ein paar Mal rieb, entwichen leise keuchende Atemzüge seinem Mund.

Im Mondlicht war sein jugendlicher fünfzehn- oder sechzehnjähriger Körper nicht gebrechlich, aber auch nicht stark: Er war übersät mit Striemen über Striemen aus violetten Blutergüssen und der schwache Duft von Medizin und Alkohol wehte durch den Wind in seine Richtung.

„Luo Binghe“, sagte Shen Qingqiu.

Die betreffende Person zuckte erschrocken zusammen und sprang von dem Stuhl auf. Die ordentlich gefaltete Robe fiel zu Boden.

„Shizun!“, sagte Luo Binghe erstaunt, „Warum bist du wach?“

Shen Qingqiu ging zu ihm hinüber: „Dieser Meister hat nicht geschlafen.“

„Hat dieser Schüler Shizun geweckt?“, fragte Luo Binghe, „Es tut mir leid! Ich bin rausgekommen, weil ich Shizuns Ruhe nicht stören wollte, und weil ich dachte, ich würde immer noch …“

Das Kind hatte also befürchtet, dass dieses Herumwälzen ihn aufwecken würde. Deshalb war er mitten in der Nacht herausgekommen, um sich eine medizinische Tinktur aufzutragen. Der Schmerz musste wirklich überwältigend gewesen sein.

„Woher kommen diese Verletzungen?“, fragte Shen Qingqiu.

„Sie sind kein Problem“, sagte Luo Binghe, „Es ist nur so, dass dieser Schüler kürzlich sein Kultivierungstraining nicht richtig durchgeführt hat, sodass er unnötigerweise mehr Verletzungen als gewöhnlich erlitt.“

Shen Qingqiu sah sich diese Verletzungen genau an: „Der Bai-Zhan-Gipfel hat dich wieder ausgesucht, nicht wahr?“

Luo Binghe wollte nicht ja sagen, aber er war auch nicht bereit zu lügen.

Je mehr Shen Qingqiu sein stilles Erscheinen betrachtete, desto wütender wurde er: „Was hat dir dieser Meister vorher beigebracht?“

„Wenn du sie nicht besiegen kannst, lauf.“

„Und hast du das?“

„Aber ... aber wenn dieser Schüler das täte, würde er dann nicht viel Gesicht für den Qing-Jing-Gipfel verlieren?“

„Menschen zu schlagen, nur weil ihnen danach ist — was ist der Unterschied zwischen dem Bai-Zhan-Gipfel und den gewöhnlichen Schlägern und Tyrannen unten am Berg? Mal im Ernst, wer von uns muss eigentlich sein Gesicht verlieren? Ist es der Qing-Jing-Gipfel oder der Bai-Zhan-Gipfel? Dieser Meister macht sich sofort auf den Weg, um nach Liu Qingge zu suchen. Das Jahr hat dreihundertfünfundsechzig Tage! Wenn er nur einen von ihnen nehmen würde, um seine Schüler zu disziplinieren, wären sie nicht so barbarisch.“

Luo Binghe packte ihn: „Shizun, das darfst du nicht! Wenn Shizun wegen dieses Schülers am Ende wieder mit Liu-Shishu streitet, dann … dann wird er ...“

Unfähig, Shen Qingqiu zurückzuhalten, wurden seine Beine schlaff. Als Shen Qingqiu stoppte, fügte er schnell hinzu: „Außerdem sind die nicht alle von meinem Bai-Zhan-Gipfel-Shidi. Ich wurde während des Kultivierungstrainings öfter verletzt, deshalb sieht es so schrecklich aus.“

Beim Anblick der Aufregung stieß Shen Qingqiu einen Seufzer aus: „Bei der Kultivierung muss man allmählich und Schritt für Schritt vorgehen und dem natürlichen Weg folgen. Wie kann man da Wachstum erzwingen? So wie du bist, ist es, als würdest du Sprossen ausreißen, um sie größer zu machen. Wenn du am Ende deine Basis beschädigst, wirst du dann nicht ein Leben voller Reue führen?“

Und eines Tages würde Shen Qingqiu definitiv eine Möglichkeit einfallen, diesem Schurken vom Bai-Zhan-Gipfel eine Lektion zu erteilen. Er würde sogar Liu Qingge einsetzen, um sie zu disziplinieren, damit sie den Zweitplatzierten nicht herausfordern konnten. Hatten sie überhaupt kein Konzept von Dienstalter? Wie konnte er das zulassen!

„Ja“, murmelte Luo Binghe.

„Du solltest hineingehen“, sagte Shen Qingqiu.

Luo Binghe wedelte mit den Händen hin und her: „Nein. Ich bleibe draußen. Wenn ich reingehe, störe ich Shizuns Ruhe.“

Shen Qingqiu krümmte seinen Finger und das Hemd auf dem Boden flog in seine Hände. Er schüttelte es aus und legte es über Luo Binghes Schultern: „Welche Ruhe? Jetzt, wo dieser Meister dich gesehen hat, wie kann er dir erlauben, allein draußen zu bleiben, während du dem kalten Wind trotzt?“

Als sie wieder im Bambushaus waren, wollte Luo Binghe zu seinem Bett zurückkehren, aber Shen Qingqiu nahm die Medizin, die er in der Hand hielt und bedeutete ihm, sich auf die Couch in seinem persönlichen Zimmer zu setzen.

Luo Binghe wurde hinübergezogen, immer noch fassungslos und er blieb so, bis Shen Qingqiu begann, die Schärpe zu lösen, die er gerade wieder gebunden hatte.

Dann errötete dieses ganze Gesicht rot, während er seinen Kragen fest zuzog und einige Schritte rückwärtsging: „Shizun, was, was, was — was machst du da?!“

Shen Qingqiu schüttelte die kleine Medizinflasche: „Medizin für dich auftragen. Danach massiere ich deine Blutergüsse.“

„Nicht nötig. Ich mache es selbst!“, Luo Binghe warf sich nach vorne und versuchte, die Flasche zu greifen, aber Shen Qingqiu drehte seine Hand um und packte sein Handgelenk. Er zog Luo Binghes Arm zu sich heran und sagte ausdruckslos: „Kannst du die Stellen mit den Blutergüssen auf deinem Rücken sehen?“

Luo Binghe zitterte: „Ich werde ... ich werde es einfach überall anwenden!“

Er weigerte sich immer noch, die Wiederaufnahme der Flasche aufzugeben. Normalerweise war Luo Binghe stets unterwürfig, sanft und ruhig. Dies war das erste Mal, dass Shen Qingqiu ihn mit so roten Ohren sah, dass Blut aus ihnen zu tropfen schien. Er fand es amüsant und er dachte, dass es wahrscheinlich daran lag, dass das Kind ein wenig größer geworden war. Daher fand er es jetzt beschämend, geschlagen worden zu sein, und es war sogar noch beschämender, dass sein Meister ihm deswegen Medizin verabreichte.

Obwohl Shen Qingqiu heimlich in seinem Herzen lachte, blieb sein Gesicht ernst: „ Unsinn“, tadelte er ihn, „Der Qian-Cao-Gipfel schickt immer jedes Mal eine festgelegte Menge an Medikamenten. Wie können wir dich sie so verschwenden lassen?“

„Ich ... ich ...“

Luo Binghe schaffte es nicht einmal mehr, 'dieser Schüler' zu sagen. Tränen traten ihm in die Augen, als er seine Robe fest über der Brust zu hielt und es aussah, als hätte er völlig den Verstand verloren.

Shen Qingqiu packte ihn an der Schulter und drehte ihn herum. Dann streifte er in einem Zug seine Robe ab, bevor er die Flüssigkeit in der kleinen Flasche auf die Wunden auf seinem Rücken auftrug.

Überrascht gab Luo Binghe ein leises Geräusch von sich: „Au.“

Shen Qingqiu verringerte schnell die Kraft seiner Berührung. „Habe ich zu stark gedrückt?“

Luo Binghe schüttelte heftig den Kopf.

„Was schreist du dann? Du bist ein großer, starker Mann. Und doch kannst du nicht einmal diesem kleinen Schmerz standhalten?“

Luo Binghes Stimme war wie der Laut einer Mücke: „Nein, es ist kein Schmerz ...“

Shen Qingqiu machte sich Sorgen, rieb eine Weile die Wunde ein und versuchte dann, einen langsamen Strom spiritueller Energie von seiner Handfläche in Luo Binghe zu senden.

„Ah!“, Luo Binghe schrie erneut auf.

Shen Qingqiu war verwirrt. „Warum machst du so viel Aufhebens darum? Hast du völlig den Sinn für Anstand verloren? Kannst du mit solchen Manieren behaupten, ein Schüler meines Qing-Jing-Gipfels zu sein?“

„Ich ... ich ... Diesem Schüler, diesem Schüler geht es gut, jetzt wo die Medizin angewendet wurde“, sagte Luo Binghe mit zitternder Stimme, „Shizun muss seine Energie nicht verschwenden.“

Shen Qingqius rechte Handfläche drückte sich nahtlos gegen die nackte Haut von Luo Binghes Rücken, während er sich langsam bewegte: „Fühlt es sich gut an?“

Luo Binghe sprach nicht. Er schien sich auf die Lippen zu beißen.

Shen Qingqiu hatte eine Hand auf seiner Taille, als er leicht und sanft massierte, aber innerlich war er verwirrt. Hatte es sich nicht gut angefühlt? Das konnte nicht sein. Er erinnerte sich an die Akupunkturpunkte des Körpers. Und das Niveau der spirituellen Energie sollte genau richtig sein. Die Blutergüsse waren auch schon ziemlich verblasst, also warum schien Luo Binghe so gequält zu sein? Es konnte nicht sein ... War Shen Qingqiu einer dieser Menschen, die zwei linke Hände hatten?!

Er zog seine Hand zurück und Luo Binghe atmete erleichtert auf, seine Augen waren blutunterlaufen. Er hätte nie vorhersehen können, dass er im nächsten Moment in die Arme von jemandem gerissen und vollständig in eine Umarmung gehüllt werden würde.

Während Shen Qingqiu Luo Binghe hielt, legte er sich auf die Couch.

Luo Binghe klang, als würde er seinen letzten Atemzug tun: „Shizun ... Shizun!“

Shen Qingqiu hatte seine innere Robe nicht ausgezogen, aber es war nur eine dünne Schicht zwischen ihnen, während ihre Herzschläge gegeneinanderschlugen. Innerhalb der Umarmung gab es die größte Kontaktfläche, daher war auch die Menge an spiritueller Energie, die übertragen werden konnte, größer.

„Es wäre nicht schnell genug, nur meine Handfläche zu benutzen“, sagte Shen Qingqiu, „Wenn wir einen Moment so bleiben, werden auch deine Wunden geheilt sein, sobald die Meridiane dieses Meisters ein paar Mal zirkuliert sind. Es wird weitaus wirksamer sein als jede Medizin.“

Luo Binghe tobte in seinen Armen herum wie ein kleiner Igel.

„Shizun! Shizun! Ich bin mit Medizin bedeckt!“

Die Reibung seines Ringens entfachte ein Feuer in Shen Qingqiu — ein emotionales Feuer. Er gab Luo Binghes Hintern einen warnenden Klaps: „Wieso windest du dich?“, fragte er geduldig, Ich behandle dich — also sei brav!

Nach dem Klaps, der weder leicht noch hart war, versteifte sich Luo Binghe zu einem Stock. Ein Stock, der über offener Flamme geröstet wurde, der lange litt und gequält wurde.

„Shizun … das ist nicht angemessen“, sagte der Stock, „Lass — lass mich gehen ...“

„Luo Binghe, wenn du Yingying wärst, würde dieser Meister so etwas offensichtlich niemals tun, selbst wenn du dich nicht so sehr herumwinden würdest”, sagte Shen Qingqiu, „Aber du bist kein junges Mädchen. Hast du Angst, dass dieser Meister dich fressen wird?“

An diesem Punkt hörte Luo Binghe tatsächlich auf, sich zu winden, obwohl sein Fokus verirrt war: „Shizun sagt, dass er ... er würde das nicht mit Ning-Shijie tun?“

Wenn die Person, die in dieser Nacht verletzt worden wäre, Ning Yingying gewesen wäre, selbst wenn man Shen Qingqiu den Mut von hundert Mann gegeben hätte, hätte er es immer noch niemals gewagt, diese Behandlungsmethode anzuwenden. Leider konnte er seine strahlende Reinheit und vollkommene Aufrichtigkeit nicht lautstark der ganzen Welt verkünden.

„Natürlich nicht“, sagte er resolut.

Dann sagte Luo Binghe: „Wenn dann … es nicht Ning-Shijie wäre, sondern ein anderer verletzter Schüler, würde Shizun — würde Shizun das tun?“

Shen Qingqiu hielt inne: „Welcher Unsinn geht dir durch den Kopf? Beruhige deinen Geist und atme.“

Endlich beruhigte sich der Igel in seinen Armen.

Zufrieden wählte Shen Qingqiu die bequemste Position, die er konnte und legte sein Kinn über Luo Binghes Kopf. Er befreite eine Hand und benutzte sie, um die Wirbelsäule seines Schülers nachzuzeichnen, und streichelte sie sanft immer wieder auf beruhigende Weise.

Er fühlte sich nicht lange wohl, da das Halten von Luo Binghe begann, schwierig zu werden. Der Junge war glühend heiß, als wäre er gerade aus einem Dampfkessel gestiegen. Der Schweiß von seinem Oberkörper hatte praktisch Shen Qingqius innere Robe durchnässt.

Shen Qingqiu war erstaunt. Die spirituelle Energie, die er Luo Binghe geschickt hatte, hatte es sicherlich nicht geschafft, ihm Fieber zu verpassen!

Er wollte gerade Luo Binghes Gesicht hochziehen, um seinen Teint zu studieren, aber was er bekam, war eine Handvoll feiner Schweiß, glitschig und schlüpfrig. Der Körper in seiner Umarmung begann mit aller Kraft, um sich zu schlagen. Wie ein großer weißer Fisch ohne Wasser glitt Luo Binghe aus seinen Armen und fiel krachend von der Bambuscouch.

Dabei blieb es nicht. Was folgte, war ein fürchterlich klingender Knall — dann ein Bums!

Luo Binghe hatte den Hocker umgeworfen und seinen Kopf gegen den Wandschirm geschlagen. Dann, als wäre er verrückt geworden, krabbelte und rollte er auf die Füße und stürmte aus dem Bambushaus.

Am Ende dieses ganzen Spektakels blieb Shen Qingqiu wie erstarrt auf der Couch zurück. Eine Weile saß er völlig verwirrt da, bevor er endlich auftaute, von der Couch sprang und ihm nachjagte: „Luo Binghe?“

Luo Binghe war bereits mehrere Meter voraus gesprintet. Während er rannte, schrie er: „Es tut mir leid, Shizun!“

Shen Qingqius Gesichtsausdruck war dunkel vor Entsetzen: „Was tut dir leid? Komm sofort hierher zurück!“

Durch den Nachtwind erreichte ihn eine ferne, tränenreiche Stimme: „Ich kann nicht! Shizun, ich kann dich gerade nicht sehen! Komm nicht in meine Nähe — komm auf keinen Fall in meine Nähe!“

Was in aller Welt ist in ihn gefahren?!

Logischerweise übertraf Shen Qingqius Kultivierung Luo Binghes um einiges und er war auch kategorisch schneller, aber ob aufgrund eines Adrenalinstoßes von Luo Binghes Seite oder aufgrund eines anderen Faktors, er konnte ihn einfach nicht aufholen.

Die beiden rannten die Straßen entlang, während sie sich gegenseitig anschrien. Innerhalb weniger Augenblicke war der gesamte Qing-Jing-Gipfel wachgerüttelt worden. Überall leuchteten Lampen zu zweit und zu dritt auf: Eine Herde von Schülern, die Lichter trugen, strömte in großer Zahl zusammen.

„Wer schreit so spät in der Nacht so laut und stört die Ruhe des Qing-Jing-Gipfels?“

„Diese Stimme klingt wie Shizun!“

„Unsinn! Wie könnte Shizun so etwas Unhöfliches tun—“

Diese letzte Stimme musste noch ausklingen, als Shen Qingqiu wie ein Windstoß mit ausdruckslosem Gesicht an ihnen vorbeiflog. Für einen Moment war alles völlig still.

Shen Qingqiu machte sich Sorgen, dass Luo Binghes bei seinem gedankenlosen Laufen nicht auf seine Schritte achtete und am Ende an einer Klippe scheitern könnte. Er holte tief Luft und schrie: „Ming Fan! Stoppe ihn! Stoppe Luo Binghe!“

Ming Fan hatte sich gerade ein Außengewand übergeworfen und ging mit einer Laterne herüber. Er starrte auf den Anblick und schnappte nach Luft. Dieser Bastard Luo Binghe sprintete voller Entsetzen davon, während Shizun ihm nachjagte und sich in mörderischer Absicht aufregte—.

Diese Szene! Alles hatte sich endlich wieder normalisiert!

Begeistert schrie er: „Shizun! Dieser Schüler wird dir helfen! Wir werden uns dieses Balg schnappen und ihm eine Lektion erteilen! Kommt, meine Shidis, holt ihn euch!“

Während Schüler aus allen Richtungen herbeieilten, holte Shen Qingqiu schließlich das wilde, entlaufene Pferd ein, das Luo Binghe war. Aber bevor er den Jungen am Kragen packen und hochheben konnte, weigerte sich Luo Binghe, sich zu fügen, und warf sich mit aller Kraft nach vorne—.

Mit einem Platschen spritzte Wasser überall hin. Luo Binghe hatte sich in einen klaren, ruhigen Teich auf dem Qing-Jing-Gipfel gestürzt.

Mit dieser Aktion schien er wieder einen klaren Kopf bekommen zu haben. Sein ganzer Körper war von kaltem Wasser durchtränkt, er hörte schließlich auf, sich zu bewegen.

„Hast du dich beruhigt?“, fragte Shen Qingqiu.

Luo Binghe senkte den Kopf, hob dann beide Hände und bedeckte damit sein Gesicht.

Währenddessen war Ming Fan so gerührt, dass Tränen über sein Gesicht liefen. Ein in kaltes Wasser getauchter Luo Binghe, der zitterte und aussah, als wäre er brutal geschlagen worden. Ein Shizun mit verschränkten Armen, der ihm mit einem kühlen Lächeln gegenüberstand. Ah, so eine warme, vertraute Szene — ah, so ein nostalgischer Anblick!

Eine Gruppe von Schülern umringte Luo Binghe, während sie miteinander flüsterten. Luo Binghe war immer noch im Teich, schweigend mit den Händen vor dem Gesicht.

Als Mädchen brauchte Ning Yingying immer mehr Zeit, um sich anzuziehen und ihre Haare zu kämmen, also kam sie zu spät. In dem Moment, als sie es tat, wurde sie von diesem Anblick begrüßt und es platzte geschockt aus ihr heraus: „A-Luo! Warum … warum sitzt du in einem Teich? Wer hat dich dieses Mal schikaniert? Shizun, was ist hier passiert?“

Shen Qingqiu schwieg, bevor er kalt antwortete: „Dieser Meister möchte auch genau wissen, 'wer' schuld ist und 'was' hier passiert ist.“

Luo Binghe schüttelte den Kopf, das Gesicht immer noch bedeckt: „Niemand ist schuld. Und nichts ist passiert.“

Shen Qingqiu stand eine Weile am Rand des Teichs, dann seufzte er plötzlich: „Steh auf. Was machst du da? Warum sitzt du immer noch da drin?“

Luo Binghe schüttelte weiter den Kopf: „Nein, Shizun. Ich bleibe hier. Lass mich nur eine Weile hierbleiben …“

Es war Winter und es war eiskalt. Es hatte vielleicht nicht geschneit, aber wenn Luo Binghe eine ganze Nacht so in dem eisigen Teich bleiben wollte ... Wollte er sterben?

Shen Qingqiu hob seinen Saum, bereit, ins Wasser zu gehen und ihn herauszuziehen.

„Shizun, komm nicht rein!“, sagte Luo Binghe hastig, „Hier ist das Wasser kalt und schmutzig — du sollst nicht nass werden ...“

Shen Qingqiu war bereits durch das Wasser zu seiner Seite gewatet und hatte die Entfernung von drei Schritten in zwei zurückgelegt.

Bei ihm angekommen starrte er ihn streng an.

Luo Binghes Kopf senkte sich noch weiter. Er wagte es nicht, Shen Qingqius Blick zu begegnen, und sank stattdessen tiefer ins Wasser.

„Brauchst du die Hilfe dieses Meisters?“, fragte Shen Qingqiu.

Luo Binghe schwieg, dann sagte er: „Shizun, ich — lass mich einfach alleine hierbleiben!“

Shen Qingqiu war mit diesem Kind am Ende seiner Kräfte. Er beruhigte sich, dann wandte er sich plötzlich den Qing-Jing-Gipfel-Schülern zu, die sie beobachteten: „Warum guckt ihr?“, fragte er streng, „Verschwindet und kehrt in eure Zimmer zurück. Geht schlafen.“

Die Gruppe drängte hin und her, aber sie blieben immer noch stehen und wollten nicht gehen.

„Ihr schaffst es um drei zum Morgenunterricht?”, sagte Shen Qingqiu, „Jeder, der zu spät kommt, kopiert die Schriftrollen hundertmal.“

Drei! Aber es war schon nach ein Uhr morgens! Schriftrollen kopieren — und das hundertmal!

In dem Moment, in dem diese Worte seinen Mund verlassen hatten, war das Ufer des Teichs menschenleer wie Wolken, die vom Wind weggefegt wurden.

Sobald Shen Qingqiu sicher war, dass niemand sie mehr beobachtete, drehte er sich um und blieb stehen, um Luo Binghe unter seinen Rücken und seine Kniekehle hochzuheben.

Als Luo Binghe erkannte, was er tun wollte, verhielt er sich zunehmend wie ein großer weißer Fisch, der sich im Wasser versteckte und herumspritzte: „Shizun! Shizun, tu das nicht — tu das nicht!“

Shen Qingqiu wurde mit Wasser ins Gesicht gespritzt. Seine Roben waren gründlich durchnässt. Er wischte sich mit einem Ärmel über das Gesicht: „Hast du heute Nacht nicht schon genug Unsinn gemacht?“

Als Luo Binghe es nicht mehr wagte, sich zu bewegen, stählte sich Shen Qingqiu und hob Luo Binghe in seine Arme.

Ein bisschen schwer. Nachdem er das in seinem Herzen gemurmelt hatte, trug Shen Qingqiu Luo Binghe zurück in Richtung des Bambushauses.

Auf halbem Weg sprach Luo Binghe plötzlich mit schmerzerfüllter Miene aus seinen Armen: „Shizun, ich ... ich kehre zum Holzschuppen zurück.“

„Luo Binghe! Was genau ist heute Nacht in dich gefahren?“, sagte Shen Qingqiu streng, „Du bist total verschüchtert und ausweichend. Du bist vorhin sogar mit aller Kraft davongelaufen! Ein Außenstehender, der nicht weiß, was hier vorgeht, würde glauben, dieser Meister hätte dir etwas Unverzeihliches angetan!“

 

_________________________________________

 

Der Luo Binghe dieser Nacht hatte sich wirklich blamiert und seinen eigenen Ruf zerstört.

Eine dunkle Vergangenheit! Das war hundertprozentig Luo Binghes dunkle Vergangenheit.

Später erinnerte sich Shen Qingqiu manchmal an den Vorfall und benutzte ihn, um Luo Binghe zu ärgern. Aber Luo Binghe wurde nicht einmal rot. Er war wirklich erwachsen geworden und sein Gesicht war auch dicker geworden.

„Ich war in dem Alter, in dem man am empfänglichsten für Leidenschaft ist“, erklärte er, „Die Person, die ich am meisten bewunderte, hatte mich in seinen Armen gehalten, hatte mich umarmt und sich an mir gerieben. Shizun, wie konntest du mich bitten, mich da unter Kontrolle zu halten? Nachdem ich meine Gefühle erkannt hatte, war ich nicht in der Lage, die Reaktion meines Körpers zu kontrollieren, aber ich hatte Angst, dass du es bemerken würdest. Was hätte ich tun können, außer mich lächerlich zu machen?“

Während er sich daran erinnerte, dass Luo Binghe diese Worte gesagt hatte und wie sein Gesicht einige selten gesehene Anzeichen echter Schüchternheit gezeigt hatten, konnte Shen Qingqiu nicht anders, als zu lächeln.

Er lächelte und lächelte, aber dann konnte er es nicht mehr.

Er wagte es nicht darüber nachzudenken, wie sich der Luo Binghe vor ihm jetzt fühlte, während er Shen Qingqius Leichnam in seinen Armen hielt.

 

______________________________________

 

Dieses Traumreich, das Shen Qingqiu nicht verlassen konnte, war sowohl langwierig als auch eintönig. Genauso wie Luo Binghes Leben im Huan-Hua-Palast gewesen war.

Luo Binghe verbrachte jeden Tag über die Hälfte der Stunden damit, sich im kalten Huan-Hua-Pavillon zusammenzukauern. Er nahm sogar alle seine Dokumente mit hinein, um sie dort zu erledigen.

Shen Qingqiu hatte Luo Binghe selten so ernsthaft arbeiten sehen. Meistens war Luo Binghes Verhalten ihm gegenüber ein wenig seltsam, er verhielt sich von Kopf bis Fuß wie ein liebeskrankes junges Mädchen.

Wenn Luo Binghe sich um wichtige dämonische Angelegenheiten kümmern musste, dann mied ihn Shen Qingqiu bewusst und achtete darauf, ihn nicht zu stören. Bei den Gelegenheiten, bei denen er ihm nämlich begegnete, verlor Luo Binghe sofort das Interesse an seiner Arbeit und warf den Berg von Dokumenten auf seinem Schreibtisch beiseite, um an Shen Qingqiu zu appellieren, das er sich ganz liebenswürdig und gehorsam verhielt.

Allerdings konnte er nur innerhalb dieses Traumreichs genau beobachten, wie Luo Binghe war, wenn er allein war und gewissenhaft die offiziellen Geschäfte erledigte.

Shen Qingqiu fing an, neben Luo Binghes Schreibtisch zu sitzen, wo er erstaunt auf dieses ruhige, ernste Seitenprofil starrte. Luo Binghe runzelte leicht die Stirn und las zehn Zeilen mit einem Blick, seine Pinselstriche waren schnell und präzise. Die Anweisungen, die er hinterließ, waren umfassend, aber konsequent, die Tinte wurde sparsam verwendet. Kurz gesagt, er arbeitete mit einer Ernsthaftigkeit, die kaum zu glauben war.

Er behielt auch seine alte Gewohnheit bei, jeden Tag zu kochen. Morgens ein exquisiter Snack, mittags vier Beilagen mit Suppe und abends eine Schüssel Reisbrei. Schneeweißer Reis, tiefgrüne Frühlingszwiebeln, hellgelber geriebener Ingwer. Es war wie die erste Schale, die Luo Binghe jemals für ihn gemacht hatte. Alles wurde in eine verschneite Porzellanschale gegossen, und sobald der Dampf nachließ, lieferte Luo Binghe es zum Pavillon.

Auch ohne dass jemand seine Bemühungen würdigte, bestand er darauf, alles so zu machen, wie er es auf dem Qing-Jing-Gipfel getan hatte. Es war, als würde er auf den Tag warten, an dem Shen Qingqiu plötzlich aufwachen und seine Augen öffnen würde. Auf diese Weise wäre das Essen sofort verfügbar und er müsste nicht warten.

Manchmal ging Luo Binghe für einen halben Tag fort. Meistens ging es darum, Probleme auf der Dämonenseite anzugehen, mit denen sonst niemand fertig werden konnte, also musste sich Luo Binghe persönlich darum kümmern.

Er wurde so gut wie nie verletzt. Dann, eines Tages, knackte er den Jackpot und kam blutig zurück.

Luo Binghe ging zuerst durch die Türen, aber dann, als ob ihm plötzlich etwas eingefallen wäre, ging er viele Schritte zurück und zog seine blutbefleckte äußere Robe aus. Er stieß ein wenig Energie aus seiner Hand aus, entzündete sie und verbrannte sie vollständig. Erst nachdem er sich vergewissert hatte, dass kein Blut mehr an ihm war, näherte er sich langsam der Sitzplattform.

Sein Gesichtsausdruck war derselbe wie immer und er sagte zu der Leiche auf der Sitzplattform: „Shizun, etwas ist passiert und hat eine Verzögerung verursacht. Dieser Schüler kam spät zurück, also gibt es keinen Reisbrei.“

Natürlich antwortete niemand, was hervorhob, dass diese Situation nur ein wenig ... skurril war.

Shen Qingqiu fühlte sich ein wenig festgefahren, unfähig, weder zu lachen noch zu weinen, aber sein Herz zog sich zusammen mit einem sauren Gefühl darin. Er antwortete: „Es ist in Ordnung, dass es keinen gibt.“

In diesen Tagen im Traum hatte er sich angewöhnt, mit sich selbst zu sprechen. Da sie durch Zeit und Raum getrennt waren, konnte Luo Binghe ihn nicht hören und Shen Qingqiu konnte ihn auch nicht berühren, aber am Ende... wollte er immer noch antworten.

Luo Binghe stand eine Zeit lang schweigend da und sagte dann: „Macht nichts.“

Er drehte sich um und ging. Nach einer Weile kehrte er mit einer dampfend heißen Schüssel Reisbrei durch die Tür zurück. Er stellte sie im Vorbeigehen auf den Schreibtisch und begann dann langsam und methodisch, seine Kleidung auszuziehen: „Liu Qingge hat Mu Qingfang gerettet.“

Shen Qingqiu gab ein anerkennendes Geräusch von sich.

Luo Binghe sprach weiter mit sich selbst: „Es ist in Ordnung, dass er gerettet wurde. Jedenfalls sagte Mu Qingfang immer nur: 'Es gibt keine Möglichkeit.' Er ist völlig nutzlos.“

„Wie kannst du deinen Shishu nur so schlechtreden?“, schimpfte Shen Qingqiu.

Luo Binghe legte seine äußere Robe ab. Auf seiner Brust war eine Wunde, die langsam heilte. Shen Qingqiu konnte auf einen Blick erkennen, dass die Schnittwunde durch Liu Qingges leuchtendes Schwert verursacht worden war. Unter diesen neuen Wunden war eine alte, immer hartnäckig und widerspenstig, nicht bereit zu verblassen.

Luo Binghe legte sich hin, drehte sich herum und zog diesen Körper in seine Arme: „In der Vergangenheit, als der Bai-Zhan-Gipfel kam und mich immer wieder geschlagen hat, hatte Shizun immer eine Methode, um sich für mich an ihnen zu rächen. Wann wird Shizun dasselbe tun und sich an Liu Qingge rächen?“

Shen Qingqiu saß auf der Sitzplattform: „Das ist unmöglich. Ich kann ihn nicht besiegen.“

„Shizun.“

„Mm.“

„Shizun, ich kann nicht mehr lange durchhalten.“

Shen Qingqiu sprach nicht.

Luo Binghe lächelte: „Es ist wahr. Shizun, wenn du nicht bald aufwachst, werde ich … ich werde es nicht mehr lange aushalten können.”

Aber Shen Qingqiu wusste, dass er durchhalten würde.

Er würde diese eiskalte, leblose Leiche halten und noch fast zweitausend dieser Tage und Nächte durchhalten.

Der Schmerz in seinem Herz war überwältigend. Es schmerzte so sehr, dass es in seiner Brust explodierte. Shen Qingqiu sah, wie sich eine Hand nach vorne streckte, und vergeblich versuchte er das strahlend weiße Gesicht von Luo Binghe zu berühren.

Er sah zu, wie es zitterte, unfähig, irgendetwas anzufassen, und erkannte dann plötzlich erschrocken, dass es sein Eigenes war.

„Shizun — Shizun?“

In seiner Benommenheit spürte Shen Qingqiu, wie jemand seine Schulter ergriff, während man ihn aufsetzte. Schläfrig öffnete er die Augen.

Luo Binghe war nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt und starrte ihn besorgt und nervös an: „Shizun, was ist los?“

Shen Qingqiu musste sich noch geistig besinnen. Er starrte ihn verwirrt an.

Bei diesem Anblick wurde Luo Binghe zunehmend unruhig. Am Tag zuvor hatte er einen kritischen Punkt seiner Kultivierung erreicht. In dieser Nacht, in der er sein Bewusstsein abgeschaltet hatte, hatte er keine Gelegenheit gehabt, sein Traumreich zu kontrollieren.

Nachdem er in einen unruhigen Schlaf gefallen war, war er mitten in der Nacht mit einem plötzlichen Schock wach geworden. Neben ihm war Shen Qingqius Stirn zusammengezogen gewesen und seine Stirn hatte vor Schweiß getropft. Luo Binghe wusste, dass etwas nicht stimmte. Ihm wurde klar, dass er es versäumt haben musste, seine Kräfte zu bändigen und seinen Shizun gezwungen hatte, in einem Albtraum gefangen zu sein.

Er hatte Angst, dass Shen Qingqiu seinetwegen einen außergewöhnlich schrecklichen Traum gehabt haben könnte.

„Shizun, wovon hast du gerade geträumt?“, fragte er beharrlich, „Bist du verletzt?“

„Ich …“, Shen Qingqiu war zu lange in diesem Traum geblieben und seine Seele musste noch den ganzen Weg zurückkehren. Als er Luo Binghes Gesicht betrachtete, schien es sowohl real als auch ein Trugbild zu sein und seine Sicht schwankte, manchmal verschwommen und manchmal klar. Er wusste nicht, was er sagen sollte.

Luo Binghe wurde noch hektischer und er erhob seine Stimme: „Shizun! Sag etwas!“

Plötzlich überkam Shen Qingqiu eine Eingebung. Er blinzelte, dann zog er Luo Binghes Gesicht herunter und küsste ihn.

Luo Binghe war sprachlos.

Obwohl er keine Ahnung hatte, was los war, hatte ihn der plötzliche Kuss sehr glücklich gemacht und seine Augen weiteten sich. Im nächsten Moment presste sich seine Hand gegen Shen Qingqius Nacken, als er die Initiative ergriff, den Kuss zu vertiefen.

Shen Qingqiu hörte jedoch nicht auf. Nach einigem Rascheln hatte er bereits Luo Binghes Schärpe geöffnet, nahm seine Hand und schob sie in seinen eigenen offenen Kragen. Er führte sie entlang der festen Linien seiner Brust bis zu seinem enthusiastisch pochenden Herzen.

An diesem Punkt schien Luo Binghe ein wenig schockiert über die Nachsicht. Er wagte es nicht, ungeduldig oder impulsiv zu sein, und seine Bewegungen wurden vorsichtig.

Doch während dieser Momente des leichten Zögerns hatte Shen Qingqiu sie umgedreht und Luo Binghe unter sich gedrückt, während er grob seine innere Robe aufriss.

Luo Binghes Atem war etwas unregelmäßig, während er Shen Qingqius Taille hielt, eine leichte Röte färbte seine Wangen: „Shizun ...“, stammelte er, „was ist heute Nacht in dich gefahren?“

Shen Qingqiu beugte sich hinunter und flüsterte in sein Ohr: „Heute Abend fühle ich, … dass ich dich sehr mag.“

Sofort versteifte sich Luo Binghes ganzer Körper von Kopf bis Fuß.

Er wurde abrupt traurig und hielt Shen Qingqiu in seinen Armen fest. Er holte tief Luft und sagte: „Shizun, ich ... ich bin vielleicht nicht in der Lage, sanft zu sein.“

Beim Klang der erzwungenen Ruhe in seiner Stimme lachte Shen Qingqiu: „Du sprichst, als ob es nicht wehtut, wenn du sanft bist.“

Bevor sich Luo Binghes Gesicht ändern konnte, streckte Shen Qingqiu beide Hände aus: „Ich ertrage es gerne.“




⇐Vorheriges Kapitel  Nächstes Kapitel

GLOSSAR

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen