Nachdem er sich zum Schlafen hingelegt hatte, öffnete Shen Qingqiu seine Augen und fand sich an einem anderen Ort wieder. Dies war nicht das erste Mal, dass er eine solche Situation erlebte, also war er nicht nervös. Er wusste, dass er Luo Binghes Traumreich wieder betreten haben musste. Nachdem er eine Weile herumgetrieben war, landete er leicht auf dem Boden.
Mit jeder
Fußbewegung glitt er vorwärts, während er im Wind trieb und auf Weiden trat.
Prachtvolle Jade und Gold glitzerten überall um ihn herum, die Einrichtung war
prächtig und extravagant — außerdem kam ihm einer der Korridore unglaublich
vertraut vor. Das war zu hundert Prozent der Huan-Hua-Palast.
Er ging
diesen Korridor entlang und fand am Ende den Hauptpalast und die
Versammlungshalle des Huan-Hua-Palastes. In der Vergangenheit hätte Luo Binghe
selbst eine Weile im Traumreich auf ihn gewartet, aber dieses Mal sah ihn Shen
Qingqiu nicht. Das war seltsam.
Da war
jemand in der Versammlungshalle. Als Shen Qingqiu sich diesen Rücken ansah, kam
er ihm auch bekannt vor. Als er noch einmal aus der Nähe hinsah, fand er es
ziemlich seltsam.
„Mu-Shidi?“,
fragte er fassungslos.
Der 'Mu
Qingfang', der mittig in der Halle stand, war eine Illusion, die aus Luo
Binghes Erinnerungen geboren worden war, also konnte er Shen Qingqiu natürlich
nicht hören. Dieses jüngere Sektenmitglied von ihm hatte schon immer ein mildes
Temperament besessen, aber als Mu Qingfang in der Mitte der Versammlungshalle
stand, war seine Miene frei von Wohlwollen.
Shen
Qingqiu erinnerte sich, was die Jianghu-Gerüchte besagt hatten: Dass Luo Binghe
Mu Qingfang, kurz nachdem er sich totgestellt hatte und entkommen war, in den
Huan-Hua-Palast entführt und verlangt hatte, dass er Shen Qingqiu 'heilte'.
Diese Szene musste sich während dieser Zeit ereignet haben.
Ein
schwarzer Schatten ging lautlos an ihm vorbei und Luo Binghes Stimme sagte:
„Mu-Xiansheng.“
Die Augen
dieses Luo Binghe zeigten keine Spur von Shen Qingqius Spiegelbild und er war
sich der Anwesenheit von Shen Qingqiu überhaupt nicht bewusst. Das war also
auch nicht Luo Binghes wahres Selbst, sondern ebenso eine Erinnerung.
Shen
Qingqiu war ein wenig verwirrt. War er in einen Teil des Traumreichs getrieben
worden, das selbst der echte Luo Binghe nicht kontrollieren konnte?
Weder die
Art und Weise, wie Luo Binghe ihn ansprach, noch sein Verhalten könnten als
respektlos angesehen werden, also antwortete Mu Qingfang: „Dein distinguiertes
Selbst sprach mich mit Mu-Xiansheng an. Bedeutet das, dass du dich als zum
Cang-Qiong-Berg gehörend wieder anerkennst? Oder nicht?“
„Spielt
es eine Rolle, wie ich mich anerkenne?“, fragte Luo Binghe.
„Wenn du
dich selbst nicht als solchen anerkennst, warum sprichst du Shen-Shixiong dann
immer noch mit 'Shizun' an? Und wenn du dich als solchen anerkennst, solltest
du mich 'Shishu' nennen. Außerdem, warum hast du den Schülern des
Cang-Qiong-Berges Schaden zugefügt, um mich gewaltsam hierher bringen zu
lassen?“
„Ich habe
Mu-Xiansheng gebeten, zu kommen, damit er sich meinen Shizun ansehen kann.“
Mu
Qingfang lächelte: „Shen-Shixiong zerstörte sich vor den Augen aller Anwesenden
in der Stadt Hua Yue von selbst und starb, ohne jegliche spirituelle Energie.
Ich fürchte, dass zu diesem Zeitpunkt sogar sein Leichnam längst verwest und
verfault sein wird. Dieser Mu weiß bereits, dass es so ist. Es gibt keine
Möglichkeit, Menschen wieder zum Leben zu erwecken.“
Als Shen
Qingqiu diesem Austausch von Fragen und Antworten zuhörte, brach ihm kalter
Schweiß aus.
Mu
Qingfangs Persönlichkeit war nicht wie die von Qi Qingqi oder Liu Qingge, die
nicht die geringste Beleidigung tolerieren konnten und bei der kleinsten Sache
explodierten, aber seine Antworten in diesem Moment waren nicht sehr angenehm.
Obwohl Shen Qingqiu wusste, dass alles gut werden würde, konnte er nicht umhin,
sich vor Angst um Mu Qingfang zu verkrampfen, weil er befürchtete, dass er Luo
Binghe wütend machen und unnötiges Leid über sich bringen würde.
Glücklicherweise
blieb Luo Binghe ungerührt: „Ich bitte Mu-Xiansheng nur, sich ihn anzusehen“,
sagte er kalt.
Da er nun
unter Luo Binghes Kontrolle stand, konnte Mu Qingfang nichts anderes tun, als
einer Gruppe gelb gekleideter Schüler erlauben, ihn zum Huan-Hua-Pavillon zu
eskortieren.
Die
eisige Luft im Huan-Hua-Pavillon ging bis in die Knochen. Als die beiden die
Schwelle überquert hatten, der eine vorne und der andere hinten, schlossen sich
die großen Türen sofort hinter ihnen.
Shen
Qingqiu stahl sich auf die rechte Seite ihrer Fersen.
Luo
Binghe hob den hauchdünnen Vorhang über der Sitzplattform und band ihn fest. Mu
Qingfang beugte sich für seine Untersuchung vor. Shen Qingqiu wollte ebenfalls
hinübergehen, um einen Blick darauf zu werfen, aber unglücklicherweise sprang
Mu Qingfang praktisch sofort auf, ließ den Vorhang fallen und blockierte Shen
Qingqius Sicht, während sein Gesicht sich ein wenig verzog.
„Welche
Methode hast du angewendet, um seinen Körper zu konservieren?“, fragte Mu
Qingfang.
„Mu-Xiansheng
ist der Qian-Cao-Gipfelherr“, sagte Luo Binghe sehr leichthin, „Du weißt besser
als ich, wie man einen fleischlichen Körper bewahrt, ohne ihn zu zerstören.“
Nach
einer langen Pause brach Mu Qingfangs ursprüngliche Haltung der indirekten
Verweigerung der Zusammenarbeit schließlich zusammen: „Deine spirituelle
Energie, jeden Tag gewaltsam in Shen-Shixiongs Leiche zu lenken, bringt kaum
etwas — du verhinderst gerade so den Verfall seines Körpers, während du eine
enorme Menge an spiritueller Kraft verbrauchst. Außerdem werden in dem Moment,
in dem du für einen einzigen Tag aufhörst, alle deine vorherigen Bemühungen
umsonst sein. Bei allem Respekt, Shen-Shixiong hat bereits—“
„Die
medizinischen Fähigkeiten des Cang-Qiong-Gipfels sind die besten der Welt“,
unterbrach ihn Luo Binghe, „Außerdem ist Mu-Xiansheng ein Gipfelherr. Du musst
eine Alternative kennen.”
„Es gibt
keine“, entgegnete Mu Qingfang.
Angesichts
dieser Hartnäckigkeit erschöpfte sich Luo Binghes ohnehin schon dünne Geduld
schließlich vollständig: „Wenn es keinen Weg gibt, denke dir einen aus!“,
höhnte er, „Solange Mu-Xiansheng keine Alternative einfällt, kann er nicht zum
Cang-Qiong-Berg zurückkehren!“
Mit einer
heftigen Bewegung seines Ärmels sprangen plötzlich die großen Türen des
Huan-Hua-Pavillons auf, was Mu Qingfang erschreckte. Bevor er sich davon erholt
hatte, war er aus dem Pavillon geschleudert worden und eine Gruppe von Schülern
in gelben Roben stürmte sofort nach vorne, um ihn zu packen, nachdem sie die
ganze Zeit gewartet hatten. Gleich danach schlugen die Türen wieder zu.
Ein
kalter Windstoß wehte durch den Pavillon. Das Kerzenfeuer darin schwankte und
flackerte zwischen hell und dunkel.
Plötzlich
rief Luo Binghe in seine Richtung: „Shizun …“
Shen
Qingqius erste Reaktion war zu erschrecken.
Er
dachte, dass der Luo Binghe in der Erinnerung ihn gesehen hatte. Er stellte
jedoch bald fest, dass Luo Binghe einfach nur nach ihm rief. Er hatte keine
Erwartungen, dass jemand antworten würde.
Erst
nachdem Luo Binghe eine Weile im Eingangsbereich gestanden hatte, ging er
langsam auf Shen Qingqiu zu. Er setzte sich auf die Seite der Plattform und zog
den Vorhang wieder zu, dann starrte er benommen auf das Gesicht des Körpers.
Diese
Benommenheit hielt lange an. Shen Qingqiu stand da und hatte nichts zu tun, bis
es unerträglich wurde. Er verlagerte sein Gewicht nach vorn und ging dann,
unfähig, es länger auszuhalten, ebenfalls zur Plattform. Während Luo Binghe auf
das Gesicht seiner Leiche starrte, starrte Shen Qingqiu auf Luo Binghes. Sie
starrten und starrten, bis Luo Binghe schmollte und langsam die Schärpe der
Robe dieser Leiche löste.
Das Bein,
auf dem Shen Qingqiu ein wenig kauerte, knickte plötzlich ein wenig ein.
Worte wie
'Die Szene war zu schön zum Anschauen' passten wirklich nicht zu diesem Moment,
denn die Leiche auf der Sitzplattform... sah wirklich nicht so toll aus. Vom
Hals abwärts gesprenkelt und verfärbt: Es waren die Blutergüsse des Todes.
Luo
Binghe zog seine eigene äußere Robe aus. Dann, als würde er eine große Puppe
anfassen, zog er die Leiche in eine Umarmung, sodass sie Haut an Haut gepresst
wurden. Wenn ein Fremder das Sehen würde, würde er sich entweder zu Tode
erschrecken oder er würde das Ganze überwältigend ekelhaft finden und ihm würde
eine Auswahl an bösen Worten einfallen. Aber in Wirklichkeit hielt Luo Binghe
nur die Leiche. Er berührte sie nicht auf unangemessene Weise.
Luo
Binghes Kiefer presste sich gegen den dunklen Scheitel von Shen Qingqius Haar.
Eine seiner Hände glitt die Krümmung seiner Wirbelsäule hinab und streichelte
sie sanft. Dabei sandte er große Mengen spiritueller Energie in den Körper. Die
grün-violetten Flecken der Hämatome verblassten und die Haut wurde wieder glatt
und schneeweiß.
Diese
Position und diese Bewegungen zogen beide sanft an einer Schnur in Shen
Qingqius Herz.
Er
erinnerte sich. Er hatte einmal die gleichen Bewegungen für Luo Binghe
ausgeführt.
Es war
eine Nacht gewesen, nicht lange nachdem Luo Binghe ins Bambushaus eingezogen
war.
___________________________
Es war
eine Winternacht. Ein eiskalter Wind heulte durch die Wälder des Qing-Jing-Gipfels,
tausende von Bambushalmen raschelten in den Böen.
Shen
Qingqiu hatte sich auf seinem Bett zurückgelehnt. Er schlief nicht, sondern
ruhte mit geschlossenen Augen. Während er sich ausruhte kam aus der kleinen
Welt auf der anderen Seite des Wandschirms ein leises, zurückhaltendes Knarren.
Es war schlimm, wenn sich die Person dort hin und her wälzte und nicht
einschlafen konnte.
Dann
verstummten die Geräusche des unruhigen Wälzens abrupt und jemand stand
leichtfüßig vom Bett auf, hob den Vorhang und verließ das Bambushaus.
Was tat
Luo Binghe, wenn er mitten in der Nacht nach draußen schlüpfte, anstatt zu schlafen? Shen Qingqiu
erinnerte sich nicht an eine Zeit in der Handlung, in der Luo Binghe ein
Abenteuer hatte, bei dem er sich in den frühen Morgenstunden nach draußen
schleichen musste. Neugierig erhob er sich ebenfalls.
Seine
Kultivierung war auf einem anderen Niveau als die von Luo Binghe und seine
Bewegungen waren sowohl leicht als auch schnell. Daher bemerkte sein Schüler es
überhaupt nicht, selbst als er um ihn herumgegangen war, um hinter Luo Binghes
Rücken aufzutauchen.
Auch Luo
Binghe war nicht weit gekommen. Er war nicht für ein Abenteuer an einen
geheimen und mysteriösen Ort gegangen. Vielmehr stand er einfach im Hinterhof,
bevor er sich einen kleinen Hocker heranzog, um sich darauf zu setzen. Die
Kleidung an seinem Oberkörper war bereits entfernt worden; sie lagen nun
ordentlich gefaltet auf seinem linken Oberschenkel, während seine rechte Hand
eine kleine Menge von etwas in seine linke Handfläche goss, die er dann auf
seinen Körper auftrug. Als er sich danach ein paar Mal rieb, entwichen leise
keuchende Atemzüge seinem Mund.
Im
Mondlicht war sein jugendlicher fünfzehn- oder sechzehnjähriger Körper nicht
gebrechlich, aber auch nicht stark: Er war übersät mit Striemen über Striemen
aus violetten Blutergüssen und der schwache Duft von Medizin und Alkohol wehte
durch den Wind in seine Richtung.
„Luo
Binghe“, sagte Shen Qingqiu.
Die
betreffende Person zuckte erschrocken zusammen und sprang von dem Stuhl auf.
Die ordentlich gefaltete Robe fiel zu Boden.
„Shizun!“,
sagte Luo Binghe erstaunt, „Warum bist du wach?“
Shen
Qingqiu ging zu ihm hinüber: „Dieser Meister hat nicht geschlafen.“
„Hat
dieser Schüler Shizun geweckt?“, fragte Luo Binghe, „Es tut mir leid! Ich bin
rausgekommen, weil ich Shizuns Ruhe nicht stören wollte, und weil ich dachte,
ich würde immer noch …“
Das Kind
hatte also befürchtet, dass dieses Herumwälzen ihn aufwecken würde. Deshalb war
er mitten in der Nacht herausgekommen, um sich eine medizinische Tinktur
aufzutragen. Der Schmerz musste wirklich überwältigend gewesen sein.
„Woher
kommen diese Verletzungen?“, fragte Shen Qingqiu.
„Sie sind
kein Problem“, sagte Luo Binghe, „Es ist nur so, dass dieser Schüler kürzlich
sein Kultivierungstraining nicht richtig durchgeführt hat, sodass er
unnötigerweise mehr Verletzungen als gewöhnlich erlitt.“
Shen
Qingqiu sah sich diese Verletzungen genau an: „Der Bai-Zhan-Gipfel hat dich
wieder ausgesucht, nicht wahr?“
Luo
Binghe wollte nicht ja sagen, aber er war auch nicht bereit zu lügen.
Je mehr
Shen Qingqiu sein stilles Erscheinen betrachtete, desto wütender wurde er: „Was
hat dir dieser Meister vorher beigebracht?“
„Wenn du
sie nicht besiegen kannst, lauf.“
„Und hast
du das?“
„Aber ...
aber wenn dieser Schüler das täte, würde er dann nicht viel Gesicht für den
Qing-Jing-Gipfel verlieren?“
„Menschen
zu schlagen, nur weil ihnen danach ist — was ist der Unterschied zwischen dem
Bai-Zhan-Gipfel und den gewöhnlichen Schlägern und Tyrannen unten am Berg? Mal
im Ernst, wer von uns muss eigentlich sein Gesicht verlieren? Ist es der
Qing-Jing-Gipfel oder der Bai-Zhan-Gipfel? Dieser Meister macht sich sofort auf
den Weg, um nach Liu Qingge zu suchen. Das Jahr hat dreihundertfünfundsechzig
Tage! Wenn er nur einen von ihnen nehmen würde, um seine Schüler zu
disziplinieren, wären sie nicht so barbarisch.“
Luo
Binghe packte ihn: „Shizun, das darfst du nicht! Wenn Shizun wegen dieses
Schülers am Ende wieder mit Liu-Shishu streitet, dann … dann wird er ...“
Unfähig,
Shen Qingqiu zurückzuhalten, wurden seine Beine schlaff. Als Shen Qingqiu
stoppte, fügte er schnell hinzu: „Außerdem sind die nicht alle von meinem
Bai-Zhan-Gipfel-Shidi. Ich wurde während des Kultivierungstrainings öfter
verletzt, deshalb sieht es so schrecklich aus.“
Beim
Anblick der Aufregung stieß Shen Qingqiu einen Seufzer aus: „Bei der
Kultivierung muss man allmählich und Schritt für Schritt vorgehen und dem
natürlichen Weg folgen. Wie kann man da Wachstum erzwingen? So wie du bist, ist
es, als würdest du Sprossen ausreißen, um sie größer zu machen. Wenn du am Ende
deine Basis beschädigst, wirst du dann nicht ein Leben voller Reue führen?“
Und eines
Tages würde Shen Qingqiu definitiv eine Möglichkeit einfallen, diesem Schurken
vom Bai-Zhan-Gipfel eine Lektion zu erteilen. Er würde sogar Liu Qingge
einsetzen, um sie zu disziplinieren, damit sie den Zweitplatzierten nicht
herausfordern konnten. Hatten sie überhaupt kein Konzept von Dienstalter? Wie
konnte er das zulassen!
„Ja“,
murmelte Luo Binghe.
„Du
solltest hineingehen“, sagte Shen Qingqiu.
Luo
Binghe wedelte mit den Händen hin und her: „Nein. Ich bleibe draußen. Wenn ich
reingehe, störe ich Shizuns Ruhe.“
Shen
Qingqiu krümmte seinen Finger und das Hemd auf dem Boden flog in seine Hände.
Er schüttelte es aus und legte es über Luo Binghes Schultern: „Welche Ruhe?
Jetzt, wo dieser Meister dich gesehen hat, wie kann er dir erlauben, allein
draußen zu bleiben, während du dem kalten Wind trotzt?“
Als sie
wieder im Bambushaus waren, wollte Luo Binghe zu seinem Bett zurückkehren, aber
Shen Qingqiu nahm die Medizin, die er in der Hand hielt und bedeutete ihm, sich
auf die Couch in seinem persönlichen Zimmer zu setzen.
Luo
Binghe wurde hinübergezogen, immer noch fassungslos und er blieb so, bis Shen
Qingqiu begann, die Schärpe zu lösen, die er gerade wieder gebunden hatte.
Dann
errötete dieses ganze Gesicht rot, während er seinen Kragen fest zuzog und
einige Schritte rückwärtsging: „Shizun, was, was, was — was machst du da?!“
Shen
Qingqiu schüttelte die kleine Medizinflasche: „Medizin für dich auftragen.
Danach massiere ich deine Blutergüsse.“
„Nicht
nötig. Ich mache es selbst!“, Luo Binghe warf sich nach vorne und versuchte,
die Flasche zu greifen, aber Shen Qingqiu drehte seine Hand um und packte sein
Handgelenk. Er zog Luo Binghes Arm zu sich heran und sagte ausdruckslos:
„Kannst du die Stellen mit den Blutergüssen auf deinem Rücken sehen?“
Luo
Binghe zitterte: „Ich werde ... ich werde es einfach überall anwenden!“
Er
weigerte sich immer noch, die Wiederaufnahme der Flasche aufzugeben.
Normalerweise war Luo Binghe stets unterwürfig, sanft und ruhig. Dies war das
erste Mal, dass Shen Qingqiu ihn mit so roten Ohren sah, dass Blut aus ihnen zu
tropfen schien. Er fand es amüsant und er dachte, dass es wahrscheinlich daran
lag, dass das Kind ein wenig größer geworden war. Daher fand er es jetzt
beschämend, geschlagen worden zu sein, und es war sogar noch beschämender, dass
sein Meister ihm deswegen Medizin verabreichte.
Obwohl
Shen Qingqiu heimlich in seinem Herzen lachte, blieb sein Gesicht ernst: „
Unsinn“, tadelte er ihn, „Der Qian-Cao-Gipfel schickt immer jedes Mal eine
festgelegte Menge an Medikamenten. Wie können wir dich sie so verschwenden
lassen?“
„Ich ...
ich ...“
Luo
Binghe schaffte es nicht einmal mehr, 'dieser Schüler' zu sagen. Tränen traten
ihm in die Augen, als er seine Robe fest über der Brust zu hielt und es aussah,
als hätte er völlig den Verstand verloren.
Shen
Qingqiu packte ihn an der Schulter und drehte ihn herum. Dann streifte er in
einem Zug seine Robe ab, bevor er die Flüssigkeit in der kleinen Flasche auf
die Wunden auf seinem Rücken auftrug.
Überrascht
gab Luo Binghe ein leises Geräusch von sich: „Au.“
Shen
Qingqiu verringerte schnell die Kraft seiner Berührung. „Habe ich zu stark
gedrückt?“
Luo
Binghe schüttelte heftig den Kopf.
„Was
schreist du dann? Du bist ein großer, starker Mann. Und doch kannst du nicht
einmal diesem kleinen Schmerz standhalten?“
Luo
Binghes Stimme war wie der Laut einer Mücke: „Nein, es ist kein Schmerz ...“
Shen
Qingqiu machte sich Sorgen, rieb eine Weile die Wunde ein und versuchte dann,
einen langsamen Strom spiritueller Energie von seiner Handfläche in Luo Binghe
zu senden.
„Ah!“,
Luo Binghe schrie erneut auf.
Shen
Qingqiu war verwirrt. „Warum machst du so viel Aufhebens darum? Hast du völlig
den Sinn für Anstand verloren? Kannst du mit solchen Manieren behaupten, ein
Schüler meines Qing-Jing-Gipfels zu sein?“
„Ich ...
ich ... Diesem Schüler, diesem Schüler geht es gut, jetzt wo die Medizin
angewendet wurde“, sagte Luo Binghe mit zitternder Stimme, „Shizun muss seine
Energie nicht verschwenden.“
Shen
Qingqius rechte Handfläche drückte sich nahtlos gegen die nackte Haut von Luo
Binghes Rücken, während er sich langsam bewegte: „Fühlt es sich gut an?“
Luo
Binghe sprach nicht. Er schien sich auf die Lippen zu beißen.
Shen
Qingqiu hatte eine Hand auf seiner Taille, als er leicht und sanft massierte,
aber innerlich war er verwirrt. Hatte es sich nicht gut angefühlt? Das konnte
nicht sein. Er erinnerte sich an die Akupunkturpunkte des Körpers. Und das
Niveau der spirituellen Energie sollte genau richtig sein. Die Blutergüsse
waren auch schon ziemlich verblasst, also warum schien Luo Binghe so gequält zu
sein? Es konnte nicht sein ... War Shen Qingqiu einer dieser Menschen, die zwei
linke Hände hatten?!
Er zog
seine Hand zurück und Luo Binghe atmete erleichtert auf, seine Augen waren
blutunterlaufen. Er hätte nie vorhersehen können, dass er im nächsten Moment in
die Arme von jemandem gerissen und vollständig in eine Umarmung gehüllt werden
würde.
Während
Shen Qingqiu Luo Binghe hielt, legte er sich auf die Couch.
Luo
Binghe klang, als würde er seinen letzten Atemzug tun: „Shizun ... Shizun!“
Shen
Qingqiu hatte seine innere Robe nicht ausgezogen, aber es war nur eine dünne
Schicht zwischen ihnen, während ihre Herzschläge gegeneinanderschlugen.
Innerhalb der Umarmung gab es die größte Kontaktfläche, daher war auch die
Menge an spiritueller Energie, die übertragen werden konnte, größer.
„Es wäre
nicht schnell genug, nur meine Handfläche zu benutzen“, sagte Shen Qingqiu,
„Wenn wir einen Moment so bleiben, werden auch deine Wunden geheilt sein,
sobald die Meridiane dieses Meisters ein paar Mal zirkuliert sind. Es wird
weitaus wirksamer sein als jede Medizin.“
Luo
Binghe tobte in seinen Armen herum wie ein kleiner Igel.
„Shizun!
Shizun! Ich bin mit Medizin bedeckt!“
Die
Reibung seines Ringens entfachte ein Feuer in Shen Qingqiu — ein emotionales
Feuer. Er gab Luo Binghes Hintern einen warnenden Klaps: „Wieso windest du
dich?“, fragte er geduldig, Ich behandle dich — also sei brav!
Nach dem
Klaps, der weder leicht noch hart war, versteifte sich Luo Binghe zu einem
Stock. Ein Stock, der über offener Flamme geröstet wurde, der lange litt und
gequält wurde.
„Shizun …
das ist nicht angemessen“, sagte der Stock, „Lass — lass mich gehen ...“
„Luo
Binghe, wenn du Yingying wärst, würde dieser Meister so etwas offensichtlich
niemals tun, selbst wenn du dich nicht so sehr herumwinden würdest”, sagte Shen
Qingqiu, „Aber du bist kein junges Mädchen. Hast du Angst, dass dieser Meister
dich fressen wird?“
An diesem
Punkt hörte Luo Binghe tatsächlich auf, sich zu winden, obwohl sein Fokus
verirrt war: „Shizun sagt, dass er ... er würde das nicht mit Ning-Shijie tun?“
Wenn die
Person, die in dieser Nacht verletzt worden wäre, Ning Yingying gewesen wäre,
selbst wenn man Shen Qingqiu den Mut von hundert Mann gegeben hätte, hätte er
es immer noch niemals gewagt, diese Behandlungsmethode anzuwenden. Leider
konnte er seine strahlende Reinheit und vollkommene Aufrichtigkeit nicht
lautstark der ganzen Welt verkünden.
„Natürlich
nicht“, sagte er resolut.
Dann
sagte Luo Binghe: „Wenn dann … es nicht Ning-Shijie wäre, sondern ein anderer
verletzter Schüler, würde Shizun — würde Shizun das tun?“
Shen
Qingqiu hielt inne: „Welcher Unsinn geht dir durch den Kopf? Beruhige deinen
Geist und atme.“
Endlich
beruhigte sich der Igel in seinen Armen.
Zufrieden
wählte Shen Qingqiu die bequemste Position, die er konnte und legte sein Kinn
über Luo Binghes Kopf. Er befreite eine Hand und benutzte sie, um die
Wirbelsäule seines Schülers nachzuzeichnen, und streichelte sie sanft immer
wieder auf beruhigende Weise.
Er fühlte
sich nicht lange wohl, da das Halten von Luo Binghe begann, schwierig zu
werden. Der Junge war glühend heiß, als wäre er gerade aus einem Dampfkessel
gestiegen. Der Schweiß von seinem Oberkörper hatte praktisch Shen Qingqius
innere Robe durchnässt.
Shen
Qingqiu war erstaunt. Die spirituelle Energie, die er Luo Binghe geschickt
hatte, hatte es sicherlich nicht geschafft, ihm Fieber zu verpassen!
Er wollte
gerade Luo Binghes Gesicht hochziehen, um seinen Teint zu studieren, aber was
er bekam, war eine Handvoll feiner Schweiß, glitschig und schlüpfrig. Der
Körper in seiner Umarmung begann mit aller Kraft, um sich zu schlagen. Wie ein
großer weißer Fisch ohne Wasser glitt Luo Binghe aus seinen Armen und fiel
krachend von der Bambuscouch.
Dabei
blieb es nicht. Was folgte, war ein fürchterlich klingender Knall — dann ein
Bums!
Luo
Binghe hatte den Hocker umgeworfen und seinen Kopf gegen den Wandschirm
geschlagen. Dann, als wäre er verrückt geworden, krabbelte und rollte er auf
die Füße und stürmte aus dem Bambushaus.
Am Ende
dieses ganzen Spektakels blieb Shen Qingqiu wie erstarrt auf der Couch zurück.
Eine Weile saß er völlig verwirrt da, bevor er endlich auftaute, von der Couch
sprang und ihm nachjagte: „Luo Binghe?“
Luo
Binghe war bereits mehrere Meter voraus gesprintet. Während er rannte, schrie
er: „Es tut mir leid, Shizun!“
Shen
Qingqius Gesichtsausdruck war dunkel vor Entsetzen: „Was tut dir leid? Komm
sofort hierher zurück!“
Durch den
Nachtwind erreichte ihn eine ferne, tränenreiche Stimme: „Ich kann nicht!
Shizun, ich kann dich gerade nicht sehen! Komm nicht in meine Nähe — komm auf
keinen Fall in meine Nähe!“
Was in
aller Welt ist in ihn gefahren?!
Logischerweise
übertraf Shen Qingqius Kultivierung Luo Binghes um einiges und er war auch
kategorisch schneller, aber ob aufgrund eines Adrenalinstoßes von Luo Binghes
Seite oder aufgrund eines anderen Faktors, er konnte ihn einfach nicht
aufholen.
Die
beiden rannten die Straßen entlang, während sie sich gegenseitig anschrien.
Innerhalb weniger Augenblicke war der gesamte Qing-Jing-Gipfel wachgerüttelt
worden. Überall leuchteten Lampen zu zweit und zu dritt auf: Eine Herde von
Schülern, die Lichter trugen, strömte in großer Zahl zusammen.
„Wer
schreit so spät in der Nacht so laut und stört die Ruhe des Qing-Jing-Gipfels?“
„Diese
Stimme klingt wie Shizun!“
„Unsinn!
Wie könnte Shizun so etwas Unhöfliches tun—“
Diese
letzte Stimme musste noch ausklingen, als Shen Qingqiu wie ein Windstoß mit
ausdruckslosem Gesicht an ihnen vorbeiflog. Für einen Moment war alles völlig
still.
Shen
Qingqiu machte sich Sorgen, dass Luo Binghes bei seinem gedankenlosen Laufen
nicht auf seine Schritte achtete und am Ende an einer Klippe scheitern könnte.
Er holte tief Luft und schrie: „Ming Fan! Stoppe ihn! Stoppe Luo Binghe!“
Ming Fan
hatte sich gerade ein Außengewand übergeworfen und ging mit einer Laterne
herüber. Er starrte auf den Anblick und schnappte nach Luft. Dieser Bastard Luo
Binghe sprintete voller Entsetzen davon, während Shizun ihm nachjagte und sich
in mörderischer Absicht aufregte—.
Diese
Szene! Alles hatte sich endlich wieder normalisiert!
Begeistert
schrie er: „Shizun! Dieser Schüler wird dir helfen! Wir werden uns dieses Balg
schnappen und ihm eine Lektion erteilen! Kommt, meine Shidis, holt ihn euch!“
Während
Schüler aus allen Richtungen herbeieilten, holte Shen Qingqiu schließlich das
wilde, entlaufene Pferd ein, das Luo Binghe war. Aber bevor er den Jungen am
Kragen packen und hochheben konnte, weigerte sich Luo Binghe, sich zu fügen,
und warf sich mit aller Kraft nach vorne—.
Mit einem
Platschen spritzte Wasser überall hin. Luo Binghe hatte sich in einen klaren,
ruhigen Teich auf dem Qing-Jing-Gipfel gestürzt.
Mit
dieser Aktion schien er wieder einen klaren Kopf bekommen zu haben. Sein ganzer
Körper war von kaltem Wasser durchtränkt, er hörte schließlich auf, sich zu
bewegen.
„Hast du
dich beruhigt?“, fragte Shen Qingqiu.
Luo
Binghe senkte den Kopf, hob dann beide Hände und bedeckte damit sein Gesicht.
Währenddessen
war Ming Fan so gerührt, dass Tränen über sein Gesicht liefen. Ein in kaltes
Wasser getauchter Luo Binghe, der zitterte und aussah, als wäre er brutal
geschlagen worden. Ein Shizun mit verschränkten Armen, der ihm mit einem kühlen
Lächeln gegenüberstand. Ah, so eine warme, vertraute Szene — ah, so ein
nostalgischer Anblick!
Eine
Gruppe von Schülern umringte Luo Binghe, während sie miteinander flüsterten.
Luo Binghe war immer noch im Teich, schweigend mit den Händen vor dem Gesicht.
Als
Mädchen brauchte Ning Yingying immer mehr Zeit, um sich anzuziehen und ihre
Haare zu kämmen, also kam sie zu spät. In dem Moment, als sie es tat, wurde sie
von diesem Anblick begrüßt und es platzte geschockt aus ihr heraus: „A-Luo!
Warum … warum sitzt du in einem Teich? Wer hat dich dieses Mal schikaniert?
Shizun, was ist hier passiert?“
Shen
Qingqiu schwieg, bevor er kalt antwortete: „Dieser Meister möchte auch genau
wissen, 'wer' schuld ist und 'was' hier passiert ist.“
Luo
Binghe schüttelte den Kopf, das Gesicht immer noch bedeckt: „Niemand ist
schuld. Und nichts ist passiert.“
Shen
Qingqiu stand eine Weile am Rand des Teichs, dann seufzte er plötzlich: „Steh
auf. Was machst du da? Warum sitzt du immer noch da drin?“
Luo
Binghe schüttelte weiter den Kopf: „Nein, Shizun. Ich bleibe hier. Lass mich
nur eine Weile hierbleiben …“
Es war
Winter und es war eiskalt. Es hatte vielleicht nicht geschneit, aber wenn Luo
Binghe eine ganze Nacht so in dem eisigen Teich bleiben wollte ... Wollte er
sterben?
Shen
Qingqiu hob seinen Saum, bereit, ins Wasser zu gehen und ihn herauszuziehen.
„Shizun,
komm nicht rein!“, sagte Luo Binghe hastig, „Hier ist das Wasser kalt und
schmutzig — du sollst nicht nass werden ...“
Shen
Qingqiu war bereits durch das Wasser zu seiner Seite gewatet und hatte die
Entfernung von drei Schritten in zwei zurückgelegt.
Bei ihm
angekommen starrte er ihn streng an.
Luo
Binghes Kopf senkte sich noch weiter. Er wagte es nicht, Shen Qingqius Blick zu
begegnen, und sank stattdessen tiefer ins Wasser.
„Brauchst
du die Hilfe dieses Meisters?“, fragte Shen Qingqiu.
Luo
Binghe schwieg, dann sagte er: „Shizun, ich — lass mich einfach alleine
hierbleiben!“
Shen
Qingqiu war mit diesem Kind am Ende seiner Kräfte. Er beruhigte sich, dann
wandte er sich plötzlich den Qing-Jing-Gipfel-Schülern zu, die sie
beobachteten: „Warum guckt ihr?“, fragte er streng, „Verschwindet und kehrt in
eure Zimmer zurück. Geht schlafen.“
Die
Gruppe drängte hin und her, aber sie blieben immer noch stehen und wollten
nicht gehen.
„Ihr
schaffst es um drei zum Morgenunterricht?”, sagte Shen Qingqiu, „Jeder, der zu
spät kommt, kopiert die Schriftrollen hundertmal.“
Drei!
Aber es war schon nach ein Uhr morgens! Schriftrollen kopieren — und das
hundertmal!
In dem
Moment, in dem diese Worte seinen Mund verlassen hatten, war das Ufer des
Teichs menschenleer wie Wolken, die vom Wind weggefegt wurden.
Sobald
Shen Qingqiu sicher war, dass niemand sie mehr beobachtete, drehte er sich um
und blieb stehen, um Luo Binghe unter seinen Rücken und seine Kniekehle
hochzuheben.
Als Luo
Binghe erkannte, was er tun wollte, verhielt er sich zunehmend wie ein großer
weißer Fisch, der sich im Wasser versteckte und herumspritzte: „Shizun! Shizun,
tu das nicht — tu das nicht!“
Shen
Qingqiu wurde mit Wasser ins Gesicht gespritzt. Seine Roben waren gründlich
durchnässt. Er wischte sich mit einem Ärmel über das Gesicht: „Hast du heute
Nacht nicht schon genug Unsinn gemacht?“
Als Luo
Binghe es nicht mehr wagte, sich zu bewegen, stählte sich Shen Qingqiu und hob
Luo Binghe in seine Arme.
Ein
bisschen schwer. Nachdem er das in seinem Herzen gemurmelt hatte, trug Shen
Qingqiu Luo Binghe zurück in Richtung des Bambushauses.
Auf
halbem Weg sprach Luo Binghe plötzlich mit schmerzerfüllter Miene aus seinen
Armen: „Shizun, ich ... ich kehre zum Holzschuppen zurück.“
„Luo
Binghe! Was genau ist heute Nacht in dich gefahren?“, sagte Shen Qingqiu
streng, „Du bist total verschüchtert und ausweichend. Du bist vorhin sogar mit
aller Kraft davongelaufen! Ein Außenstehender, der nicht weiß, was hier
vorgeht, würde glauben, dieser Meister hätte dir etwas Unverzeihliches
angetan!“
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Der Luo
Binghe dieser Nacht hatte sich wirklich blamiert und seinen eigenen Ruf
zerstört.
Eine
dunkle Vergangenheit! Das war hundertprozentig Luo Binghes dunkle
Vergangenheit.
Später
erinnerte sich Shen Qingqiu manchmal an den Vorfall und benutzte ihn, um Luo
Binghe zu ärgern. Aber Luo Binghe wurde nicht einmal rot. Er war wirklich
erwachsen geworden und sein Gesicht war auch dicker geworden.
„Ich war
in dem Alter, in dem man am empfänglichsten für Leidenschaft ist“, erklärte er,
„Die Person, die ich am meisten bewunderte, hatte mich in seinen Armen
gehalten, hatte mich umarmt und sich an mir gerieben. Shizun, wie konntest du
mich bitten, mich da unter Kontrolle zu halten? Nachdem ich meine Gefühle
erkannt hatte, war ich nicht in der Lage, die Reaktion meines Körpers zu
kontrollieren, aber ich hatte Angst, dass du es bemerken würdest. Was hätte ich
tun können, außer mich lächerlich zu machen?“
Während
er sich daran erinnerte, dass Luo Binghe diese Worte gesagt hatte und wie sein
Gesicht einige selten gesehene Anzeichen echter Schüchternheit gezeigt hatten,
konnte Shen Qingqiu nicht anders, als zu lächeln.
Er
lächelte und lächelte, aber dann konnte er es nicht mehr.
Er wagte
es nicht darüber nachzudenken, wie sich der Luo Binghe vor ihm jetzt fühlte,
während er Shen Qingqius Leichnam in seinen Armen hielt.
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Dieses
Traumreich, das Shen Qingqiu nicht verlassen konnte, war sowohl langwierig als
auch eintönig. Genauso wie Luo Binghes Leben im Huan-Hua-Palast gewesen war.
Luo
Binghe verbrachte jeden Tag über die Hälfte der Stunden damit, sich im kalten
Huan-Hua-Pavillon zusammenzukauern. Er nahm sogar alle seine Dokumente mit
hinein, um sie dort zu erledigen.
Shen
Qingqiu hatte Luo Binghe selten so ernsthaft arbeiten sehen. Meistens war Luo
Binghes Verhalten ihm gegenüber ein wenig seltsam, er verhielt sich von Kopf
bis Fuß wie ein liebeskrankes junges Mädchen.
Wenn Luo
Binghe sich um wichtige dämonische Angelegenheiten kümmern musste, dann mied
ihn Shen Qingqiu bewusst und achtete darauf, ihn nicht zu stören. Bei den
Gelegenheiten, bei denen er ihm nämlich begegnete, verlor Luo Binghe sofort das
Interesse an seiner Arbeit und warf den Berg von Dokumenten auf seinem
Schreibtisch beiseite, um an Shen Qingqiu zu appellieren, das er sich ganz
liebenswürdig und gehorsam verhielt.
Allerdings
konnte er nur innerhalb dieses Traumreichs genau beobachten, wie Luo Binghe
war, wenn er allein war und gewissenhaft die offiziellen Geschäfte erledigte.
Shen
Qingqiu fing an, neben Luo Binghes Schreibtisch zu sitzen, wo er erstaunt auf
dieses ruhige, ernste Seitenprofil starrte. Luo Binghe runzelte leicht die
Stirn und las zehn Zeilen mit einem Blick, seine Pinselstriche waren schnell
und präzise. Die Anweisungen, die er hinterließ, waren umfassend, aber
konsequent, die Tinte wurde sparsam verwendet. Kurz gesagt, er arbeitete mit
einer Ernsthaftigkeit, die kaum zu glauben war.
Er
behielt auch seine alte Gewohnheit bei, jeden Tag zu kochen. Morgens ein
exquisiter Snack, mittags vier Beilagen mit Suppe und abends eine Schüssel
Reisbrei. Schneeweißer Reis, tiefgrüne Frühlingszwiebeln, hellgelber geriebener
Ingwer. Es war wie die erste Schale, die Luo Binghe jemals für ihn gemacht
hatte. Alles wurde in eine verschneite Porzellanschale gegossen, und sobald der
Dampf nachließ, lieferte Luo Binghe es zum Pavillon.
Auch ohne
dass jemand seine Bemühungen würdigte, bestand er darauf, alles so zu machen,
wie er es auf dem Qing-Jing-Gipfel getan hatte. Es war, als würde er auf den
Tag warten, an dem Shen Qingqiu plötzlich aufwachen und seine Augen öffnen
würde. Auf diese Weise wäre das Essen sofort verfügbar und er müsste nicht
warten.
Manchmal
ging Luo Binghe für einen halben Tag fort. Meistens ging es darum, Probleme auf
der Dämonenseite anzugehen, mit denen sonst niemand fertig werden konnte, also
musste sich Luo Binghe persönlich darum kümmern.
Er wurde
so gut wie nie verletzt. Dann, eines Tages, knackte er den Jackpot und kam
blutig zurück.
Luo
Binghe ging zuerst durch die Türen, aber dann, als ob ihm plötzlich etwas
eingefallen wäre, ging er viele Schritte zurück und zog seine blutbefleckte
äußere Robe aus. Er stieß ein wenig Energie aus seiner Hand aus, entzündete sie
und verbrannte sie vollständig. Erst nachdem er sich vergewissert hatte, dass
kein Blut mehr an ihm war, näherte er sich langsam der Sitzplattform.
Sein
Gesichtsausdruck war derselbe wie immer und er sagte zu der Leiche auf der
Sitzplattform: „Shizun, etwas ist passiert und hat eine Verzögerung verursacht.
Dieser Schüler kam spät zurück, also gibt es keinen Reisbrei.“
Natürlich
antwortete niemand, was hervorhob, dass diese Situation nur ein wenig ...
skurril war.
Shen
Qingqiu fühlte sich ein wenig festgefahren, unfähig, weder zu lachen noch zu
weinen, aber sein Herz zog sich zusammen mit einem sauren Gefühl darin. Er
antwortete: „Es ist in Ordnung, dass es keinen gibt.“
In diesen
Tagen im Traum hatte er sich angewöhnt, mit sich selbst zu sprechen. Da sie
durch Zeit und Raum getrennt waren, konnte Luo Binghe ihn nicht hören und Shen
Qingqiu konnte ihn auch nicht berühren, aber am Ende... wollte er immer noch
antworten.
Luo
Binghe stand eine Zeit lang schweigend da und sagte dann: „Macht nichts.“
Er drehte
sich um und ging. Nach einer Weile kehrte er mit einer dampfend heißen Schüssel
Reisbrei durch die Tür zurück. Er stellte sie im Vorbeigehen auf den
Schreibtisch und begann dann langsam und methodisch, seine Kleidung
auszuziehen: „Liu Qingge hat Mu Qingfang gerettet.“
Shen
Qingqiu gab ein anerkennendes Geräusch von sich.
Luo
Binghe sprach weiter mit sich selbst: „Es ist in Ordnung, dass er gerettet
wurde. Jedenfalls sagte Mu Qingfang immer nur: 'Es gibt keine Möglichkeit.' Er
ist völlig nutzlos.“
„Wie
kannst du deinen Shishu nur so schlechtreden?“, schimpfte Shen Qingqiu.
Luo
Binghe legte seine äußere Robe ab. Auf seiner Brust war eine Wunde, die langsam
heilte. Shen Qingqiu konnte auf einen Blick erkennen, dass die Schnittwunde
durch Liu Qingges leuchtendes Schwert verursacht worden war. Unter diesen neuen
Wunden war eine alte, immer hartnäckig und widerspenstig, nicht bereit zu
verblassen.
Luo
Binghe legte sich hin, drehte sich herum und zog diesen Körper in seine Arme:
„In der Vergangenheit, als der Bai-Zhan-Gipfel kam und mich immer wieder
geschlagen hat, hatte Shizun immer eine Methode, um sich für mich an ihnen zu
rächen. Wann wird Shizun dasselbe tun und sich an Liu Qingge rächen?“
Shen
Qingqiu saß auf der Sitzplattform: „Das ist unmöglich. Ich kann ihn nicht
besiegen.“
„Shizun.“
„Mm.“
„Shizun,
ich kann nicht mehr lange durchhalten.“
Shen
Qingqiu sprach nicht.
Luo
Binghe lächelte: „Es ist wahr. Shizun, wenn du nicht bald aufwachst, werde ich
… ich werde es nicht mehr lange aushalten können.”
Aber Shen
Qingqiu wusste, dass er durchhalten würde.
Er würde
diese eiskalte, leblose Leiche halten und noch fast zweitausend dieser Tage und
Nächte durchhalten.
Der
Schmerz in seinem Herz war überwältigend. Es schmerzte so sehr, dass es in
seiner Brust explodierte. Shen Qingqiu sah, wie sich eine Hand nach vorne
streckte, und vergeblich versuchte er das strahlend weiße Gesicht von Luo
Binghe zu berühren.
Er sah
zu, wie es zitterte, unfähig, irgendetwas anzufassen, und erkannte dann
plötzlich erschrocken, dass es sein Eigenes war.
„Shizun —
Shizun?“
In seiner
Benommenheit spürte Shen Qingqiu, wie jemand seine Schulter ergriff, während
man ihn aufsetzte. Schläfrig öffnete er die Augen.
Luo
Binghe war nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt und starrte ihn
besorgt und nervös an: „Shizun, was ist los?“
Shen
Qingqiu musste sich noch geistig besinnen. Er starrte ihn verwirrt an.
Bei
diesem Anblick wurde Luo Binghe zunehmend unruhig. Am Tag zuvor hatte er einen
kritischen Punkt seiner Kultivierung erreicht. In dieser Nacht, in der er sein
Bewusstsein abgeschaltet hatte, hatte er keine Gelegenheit gehabt, sein
Traumreich zu kontrollieren.
Nachdem
er in einen unruhigen Schlaf gefallen war, war er mitten in der Nacht mit einem
plötzlichen Schock wach geworden. Neben ihm war Shen Qingqius Stirn
zusammengezogen gewesen und seine Stirn hatte vor Schweiß getropft. Luo Binghe
wusste, dass etwas nicht stimmte. Ihm wurde klar, dass er es versäumt haben
musste, seine Kräfte zu bändigen und seinen Shizun gezwungen hatte, in einem
Albtraum gefangen zu sein.
Er hatte
Angst, dass Shen Qingqiu seinetwegen einen außergewöhnlich schrecklichen Traum
gehabt haben könnte.
„Shizun,
wovon hast du gerade geträumt?“, fragte er beharrlich, „Bist du verletzt?“
„Ich …“,
Shen Qingqiu war zu lange in diesem Traum geblieben und seine Seele musste noch
den ganzen Weg zurückkehren. Als er Luo Binghes Gesicht betrachtete, schien es
sowohl real als auch ein Trugbild zu sein und seine Sicht schwankte, manchmal
verschwommen und manchmal klar. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
Luo
Binghe wurde noch hektischer und er erhob seine Stimme: „Shizun! Sag etwas!“
Plötzlich
überkam Shen Qingqiu eine Eingebung. Er blinzelte, dann zog er Luo Binghes
Gesicht herunter und küsste ihn.
Luo
Binghe war sprachlos.
Obwohl er
keine Ahnung hatte, was los war, hatte ihn der plötzliche Kuss sehr glücklich
gemacht und seine Augen weiteten sich. Im nächsten Moment presste sich seine
Hand gegen Shen Qingqius Nacken, als er die Initiative ergriff, den Kuss zu
vertiefen.
Shen
Qingqiu hörte jedoch nicht auf. Nach einigem Rascheln hatte er bereits Luo Binghes
Schärpe geöffnet, nahm seine Hand und schob sie in seinen eigenen offenen
Kragen. Er führte sie entlang der festen Linien seiner Brust bis zu seinem
enthusiastisch pochenden Herzen.
An diesem
Punkt schien Luo Binghe ein wenig schockiert über die Nachsicht. Er wagte es
nicht, ungeduldig oder impulsiv zu sein, und seine Bewegungen wurden
vorsichtig.
Doch
während dieser Momente des leichten Zögerns hatte Shen Qingqiu sie umgedreht
und Luo Binghe unter sich gedrückt, während er grob seine innere Robe aufriss.
Luo
Binghes Atem war etwas unregelmäßig, während er Shen Qingqius Taille hielt,
eine leichte Röte färbte seine Wangen: „Shizun ...“, stammelte er, „was ist
heute Nacht in dich gefahren?“
Shen
Qingqiu beugte sich hinunter und flüsterte in sein Ohr: „Heute Abend fühle ich,
… dass ich dich sehr mag.“
Sofort
versteifte sich Luo Binghes ganzer Körper von Kopf bis Fuß.
Er wurde
abrupt traurig und hielt Shen Qingqiu in seinen Armen fest. Er holte tief Luft
und sagte: „Shizun, ich ... ich bin vielleicht nicht in der Lage, sanft zu
sein.“
Beim
Klang der erzwungenen Ruhe in seiner Stimme lachte Shen Qingqiu: „Du sprichst,
als ob es nicht wehtut, wenn du sanft bist.“
Bevor
sich Luo Binghes Gesicht ändern konnte, streckte Shen Qingqiu beide Hände aus:
„Ich ertrage es gerne.“
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